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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Kopf rauchte ihr, die Füßen
taten ihr weh und die Zunge klebte ihr am Gaumen - denn während alle anderen nur
die Hälfte der Konversation zu bestreiten hatten, musste sie alles übersetzen hinüber und herüber. Zum Ende hin musste sie gegen ein hysterisches Lachen
ankämpfen, das sich in ihr beim Anblick all der korpulenten Herrschaften aufgestaut
hatte.
Vor
ihnen
verbeugten
sich
hackenschlagend
Herr
Bürgermeister
von
Andersbad,
Herr
Rumpelwurst,
der
Schnickenbinder,
der
Aufseher
über
die
Trinkwasserreinheit, Herr Knorpelsack, der Leiter des Postdienstes ...
    Diese Namen gab es doch nicht in der Wirklichkeit! Sie musste sie erfunden haben.
Sicherlich würde das ein diplomatisches Nachspiel haben. Man würde sie entlassen,
ins
Gefängnis
stecken
und
am
Ende
hinrichten
lassen.
Sie
musste
sich
zusammenreißen, die Müdigkeit abschütteln und sich konzentrieren. Und über dem
ganzen Zeremoniell wachte der Oberhofmeister Baron Gödel. Bei den wichtigsten
Persönlichkeiten machte er selbst die Honneurs und schien jede Konversation vom
Rand aus zu verfolgen. Becky kannte und fürchtete ihn, ohne recht zu wissen,
warum. Als sie gegen Ende des Abends für eine Weile nicht gebraucht wurde, weil
Adelaide vertraulich mit Rudolf sprach, winkte Gödel sie zu sich. Beckys Herz schlug
sofort schneller.
    Er zog sie in eine Ecke und beugte sich zu ihr. Sie roch sein Eau de Cologne, die
Pomade
in seinen
Haaren
und die mit Veilchen
parfümierten Dragees,
die
er
lutschte, um stets einen frischen Atem zu haben. »Sie sprechen zu laut«, sagte er
mit seiner modulierenden Stimme. »Das gehört sich nicht für einen Dolmetscher. Sie
müssen gedämpfter sprechen. Vor allem aber sollten sie den Sprechenden nicht
direkt ins Gesicht blicken. Mit Ihrer unverschämten Art erregen Sie Missfallen. Sie
laufen Gefahr, Ihren Stand zu vergessen. Wenn Sie damit fortfahren, werden Sie Ihre
Stelle bei Hof verlieren.«
    Becky musste den Leuten ins Gesicht schauen, um den Tonfall zu treffen, den der
andere seinen Worten gab. Und Adelaide selbst hatte sie gebeten, lauter zu sprechen. Doch mit dem Oberhofmeister zu streiten hatte keinen Sinn; Becky wollte nur
so schnell wie möglich von ihm fort.
    »Jawohl«, sagte sie und lächelte fügsam, als er sie entließ. Jim, der sie die ganze Zeit
beobachtet hatte, winkte sie energisch zu sich.
So verging der Abend und so wurde Adelaide offiziell in den Stand einer Prinzessin
erhoben.
Noch in derselben Nacht starb der alte König.
Sieben Mahlstrom
    Keine zehn Minuten nachdem der Leibdiener dem König morgens wie üblich den
Kaffee in dessen Silberkanne servieren wollte, wusste das gesamte Schloss, dass
König Wilhelm verschieden war. Jim rasierte sich gerade und freute sich schon auf
das Frühstück, als ein Lakai an der Tür klopfte und ihm mitteilte, Graf Thalgau erwarte ihn dringend in seinem Arbeitszimmer. Er eilte die Treppe hinunter und fand
den Grafen mit einem Diener, der ihm die Halsschleife band. Am Gesichtsausdruck
des alten Mannes erkannte er sofort, was geschehen war. »Der König ist tot?«
    »Seine Majestät lebt«, antwortete der Graf und blickte Jim eindringlich an, während
sich der Diener an seinem Hals zu schaffen machte. »König Wilhelm ist friedlich
eingeschlafen. Wir müssen uns nun rasch darüber klar werden, wie wir König Rudolf
am besten beraten und beschützen. Genug jetzt«, fauchte er den Diener an, »gehen
Sie, den Rest kann ich allein.« Der Diener machte eine Verbeugung und verzog sich.
    Jim hatte den Grafen mit seiner Entdeckung über Prinz Leopold konfrontieren und
ihm mehr Auskünfte über die spanische Schauspielerin entlocken wollen, doch jetzt
war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Der alte Mann hob sein Kinn vor dem Spiegel
und zupfte an der Schleife.
    »Jetzt ist sie gerade«, stellte er abschließend fest und griff nach einer versilberten
Haarbürste. »Hören Sie gut zu. Seine Majestät ist noch nicht wirklich im Besitz der
Macht, noch lange nicht.
Es bedarf
noch eines zähen Kampfes, ehe er Gödel
niedergerungen hat und alles im Schloss nach seinen Vorstellungen läuft. Er kann
den Mann nicht entlassen, denn diese Stellung ist erblich. Offen gesagt scheint er
mir auch nicht reif genug, um selbst zu wissen, was er will, deshalb müssen wir ihm
zur Seite stehen. Er will mich in fünf Minuten sprechen und Sie in zehn. Im Grünen
Amtszimmer. Ich werde ihn drängen, Ihnen eine verantwortungsvollere Stellung zu
geben. Gödel wird Einspruch erheben, aber wenn der

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