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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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bist geradewegs in die Falle gelaufen. Denn nun
verfügte er über noch weniger Bewegungsfreiheit als vorher: Gödel würde ihn mit
irgendwelchem Schnickschnack bei Hofe festnageln, während er draußen diese
spanische Vermummte jagen sollte - falls es sie überhaupt gab und sie wirklich dahinter steckte.
Er knurrte und tat so, als trete er einen Fußball durch das nächste geschlossene
Fenster. Dann ging er frühstücken.
    Den übrigen Morgen verbrachte er damit, die Vertreter von Kirche und Staat bei
ihren Kondolenzbesuchen zu beobachten. Einer der Ersten war der Erzbischof: ein
leichenblasser Tattergreis,
so
erschien
er Jim,
mit
einem
Gesicht
wie ein
Totenschädel unter der Scheitelkappe. Dann kamen die Diplomaten. Der deutsche
Botschafter und der Botschafter von Österreich-Ungarn trafen zum selben Zeitpunkt
ein und bescherten dem Oberhofmeister ein protokollarisches Problem: Wen sollte
er zuerst melden? Doch Oberhofmeister wurden dafür bezahlt, dass sie solche
Probleme lösten. Beim Weggehen plauderten die beiden Herren dann auch angeregt
miteinander, wofür sie, wie Jim vermutete, ebenfalls bezahlt wurden. Die Gäste
kamen
und
gingen
und
währenddessen
verlief
das
Leben
am
Hof
in
seinen
gewohnten
Bahnen:
Silberbestecke mussten
geputzt,
die Pferde gefüttert,
die
Wachen abgelöst werden und dann war es Zeit für das Mittagessen.
    Um halb drei wurde nach Jim geschickt: Die Königin wünschte ihn zu sprechen. Er
fand Ihre Majestät in dem Salon, auf dessen Terrasse sie immer mit dem verstorbenen König Arm in Arm spazieren gegangen war. Auch sie trug selbstverständlich
Schwarz; sie stand am Fenster und bewegte ihren Fächer, die großen schwarzen
Augen in dem schmalen blassen Gesicht waren tränenfeucht ...
Jim fasste sich und verneigte sich gerade rechtzeitig. »Gräfin«, sagte Adelaide zu
ihrer Begleiterin, »ich danke Ihnen. Lassen Sie uns nun bitte fünf Minuten allein.«
    Gräfin Thalgau machte einen Hofknicks - das musste sie nun - und rauschte wie eine
Fregatte aus dem Salon. Becky wollte ebenfalls gehen, doch Adelaide schüttelte den
Kopf und so blieb sie. Sie war erschöpfter als Adelaide; blass und mit einer roten
Nase sah sie aus, als ob sie sich erkältet hätte.
    »Bleib bloß hier«, sagte Adelaide mit tonloser Stimme. »Gott weiß, was die über
mich erzählen würden, wenn ich hier allein mit einem Kerl wäre. Den Erzbischof mal
ausgenommen, dieses große, angeschimmelte Skelett. Wo hast du denn gesteckt,
Jim?«
Ihre Stimme war heiser, sie schien mit ihrer Geduld am Ende. Jim kannte die
Symptome: Er hatte sie an der kleinen Harriet, Sallys Kind, gesehen, wenn sie Fieber
hatte und nicht schlafen konnte.
    »Wenn Ihre Majestät erlauben«, sagte er, »werde ich Bericht erstatten. Ich glaube,
ich weiß, wer hinter dem Attentat steckt. Hat der König jemals gegenüber Eurer
Majestät von seinem älteren Bruder Leopold gesprochen?«
Ihre Augen wurden schmal. Doch sie machte einen eher verblüfften als verärgerten
Eindruck und schüttelte nur den Kopf.
    »Nein, ich weiß nur, wer er war, mehr
nicht. Man redet nicht viel über ihn.
Warum?«
Jim
berichtete,
was
er herausgefunden
hatte.
»Und
ich
bin
ein
vollkommener Narr«, gestand er zum Schluss, »und habe mich selbst in die Hand
des
Oberhofmeisters
begeben.
Ich
meine diesen
Baron,
der einem
gotischen
Wasserspeier ähnlich sieht. Ich müsste in die Stadt und mit Hilfe von Karl von
Gaisberg und seinem Richterbund die Stadt auskundschaften. Können wir jetzt
eigentlich normal miteinander reden, Eure Majestät? Falls nicht -«
    »Aber ja doch«, bestätigte sie, »aber nur unter uns dreien. Sonst gibt es gleich
wieder
Gerüchte,
die dann
verrückte
Leute wie dein
Student,
dieser
Glatz,
aufschnappen. Und schon haben sie wieder etwas, was sie König Rudolf vorwerfen
können. Der Arme, er ist ratlos. Er ist nicht zum König geschaffen. Aber ich werde
ihm helfen. Und das bedeutet, dass du mir helfen musst, verstehst du. Ich halte das
nämlich nicht durch, ohne hin und wieder normal reden zu können.« Sie ließ sich auf
einen
Sessel
fallen.
Sie
konnte einerseits
unnahbar
und
anmutig,
andererseits
ungehobelt, nachlässig und liebevoll sein. Jim kannte beide Seiten ihres Wesens,
liebte aber besonders die letztere, denn so zeigte sie sich nicht jedem. Während er
darüber nachdachte, fiel es ihm immer schwerer, beide Seiten auseinander zu
halten. Im anmutigen Charme ihres königlichen Auftretens war immer auch eine
Spur Frechheit, und selbst wenn sie sich

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