Das Banner des Roten Adlers
war nur noch eine Ruine, allein der Bergfried stand noch, aber der
Eingang war mit Schutt versperrt. Während Adelaide über das Gras schritt und man
ihr erzählte, wie Walter das böhmische Heer auf die weite Wiese zwischen Burg und
Waldrand gelockt und dann mit seinen in Reserve gehaltenen Rittern mehrfach
angegriffen
hatte
und
wie
darauf
der
Feind,
von
Walters
monatelangem
Guerillakrieg zermürbt, zurückwich und das Heil in der Flucht suchte, betrachtete
Becky
die
friedliche Szene mit
starker
Anteilnahme.
Das
war
ihr
Land,
ihre
Geschichte ... Die warme Herbstsonne tauchte alles in Gold. Insekten summten im
Gras;
in
der Ferne sah
man
einen
Schnitter seine Sense schwingen;
von
der
Eisenbahnlinie, die unterhalb der Burg durch den Wald verlief, ertönte ein Pfiff. Es
war Zeit zu gehen.
Wie Becky ihrer Mutter in ihren zweimal wöchentlich abgehenden Briefen schrieb,
hatte sie solche Zeiten
noch
nie zuvor
erlebt.
Sie
und
Adelaide mussten
der
Bestallung jedes neuen Hofbeamten beiwohnen, sie mussten sich die Reden zur
Verabschiedung
mussten
bei
dieses
Generals
oder
zum
Besuch
jenes
Kleinfürsten
anhören,
Einweihungen,
Eröffnungen,
Empfängen,
Hochämtern
und
Dankgottesdiensten
anwesend
sein.
Mitunter
weinte
Adelaide vor
Wut
und
Erschöpfung und ging plötzlich auf Becky los, so als ob sie an allem schuld wäre.
Becky musste sich dann in Erinnerung rufen, dass sie eine treue Bürgerin Raskawiens
war und gerade ihre Königin zu ihr sprach. Meist genügte das.
Und die ganze Zeit über sah Becky auf der einen Seite Adelaide, die Londoner Göre,
und auf der anderen die Vertreter des Hochadels, die dieser Göre stets mit Ehrerbietung begegneten. Mit welchem Charme verstand sie, jeden Gast zu einer Partie
Schach zu überreden, und mit welcher Leidenschaft spielte sie dann und zeigte
dabei
ihre sich
bildende strategische Meisterschaft.
Ihre Entschlusskraft,
ihre
Autorität und ihr Wissen wuchsen von Tag zu Tag. Wie sollte Becky da nicht fasziniert sein?
Dann kam die Zeit der Diplomatie. Adelaide lud die Großmächte ein, ihre Vertreter
zu Verhandlungen nach Raskawien zu entsenden. Die raskawischen Diplomaten
waren schier entsetzt.
»Majestät, das ist ganz undenkbar -«, sagte der Außenminister.
»Zu spät. Ich habe den Gedanken bereits gehabt.«
»Aber es gilt, ein Protokoll zu respektieren -«
»Gut. Dann kümmern Sie sich um das Protokoll und ich mache die Politik.«
»Aber die offiziellen Kanäle -«
»Offizielle Kanäle sind dazu da, dass Beamte nicht aus der Reihe tanzen.«
Sie ließ sich nichts sagen und doch kamen immer neue Einwendungen. Am Ende
verlor sie die Geduld, warf ein Tintenfass und schrie so laut, dass eine Übersetzung
nicht
nötig
war,
selbst
wenn
Becky
gewusst
hätte,
wie
man
»pingelige
Korinthenkacker« und »tranige Hinterwäldler« in diplomatische Sprache kleiden
konnte. Der Minister und die Hofbeamten verbeugten sich und traten hastig den
Rückzug an. Noch am Nachmittag wurden die Einladungen verschickt.
Unterdessen suchten
Jim
und
der Richterbund fieberhaft nach
der spanischen
Schauspielerin. Er hatte dem Grafen von der Journalistin berichtet und dass sie Alois
Eggers Wohnung für den Krönungstag gemietet hatte. Der Graf hatte die Nachricht
an den Polizeichef weitergegeben. Doch Jim hatte wenig Vertrauen in die hiesige
Polizei, die über keine detektivische Ausbildung verfügte. Pickelhauben, goldene
Epauletten
und kastanienbraune Uniformen
waren
deutliche Zeichen, dass der
raskawischen Polizei mehr an Pomp als an Effizienz gelegen war.
Jim zweifelte nicht daran, dass sich die spanische Schauspielerin immer noch in der
Stadt aufhielt, obwohl er nicht hätte sagen können, woher er diese Gewissheit
nahm.
Karl, Gustav, Heinrich und die anderen hörten sich in den Kaffeehäusern und
Bierkellern der Altstadt um, sie sprachen mit den Gepäckträgern am Bahnhof,
standen am Bühneneingang des Opernhauses, befragten die Portiers sämtlicher
Hotels am Platz - und kamen nicht weiter.
Am
Ende erhielt
Jim
doch
einen
ersten,
indirekten
Hinweis.
Dazu
kam
es
im
Anrichtezimmer des Haushofmeisters, das als Gemeinschaftsraum für die höheren
Bediensteten genutzt wurde. Jim traf hier Leute, mit denen zu plaudern sich lohnte,
und sie mochten ihn ebenfalls, weil er unparteiisch war und gerne einen Witz
machte.
Als
er eines
Abends
wieder einmal
dort
war,
kam
der
Stellvertreter
des
Haushofmeisters kopfschüttelnd herein.
»Was
gibt's
denn?«,
fragte
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