Das Banner des Roten Adlers
dritten Stock. Frau Weill war sich nicht sicher.
»Es kam so plötzlich - und der Knall schien von überall herzukommen. Wie ein
Donner.« Sie war im Zweifel. »Wie dem auch sei, wer wohnt denn über uns? Frau
Czerny ist zu alt, neunundachtzig - ich kann mir nicht vorstellen, dass sie überhaupt
ein Gewehr halten könnte. Und Herr Egger war gar nicht zu Hause.«
»Wer ist Herr Egger?«, fragte Jim. »Der Zigarrenhändler«, sagte Herr Weill. »Ein sehr
freundlicher Mann. Schenkt mir zu Weihnachten stets eine gute Havanna. Ich habe
schon oft angeboten, ihm dafür einen Zahn zu ziehen, aber er lehnt immer dankend
ab und sagt >Geben ist seliger denn Nehmenc Aber heute war er nicht zu Hause, das
weiß ich zufällig, denn ich habe ihn gestern Abend zu später Stunde im Ausschank
des Gasthofs Europa getroffen. Dort erzählte er mir, er habe seine Wohnung für
einen Tag an eine Journalistin vermietet ...«
Herr Weill merkte später als alle anderen, was das bedeuten konnte. Er blickte
verdutzt auf. »Bestimmt hat sie sich ausgewiesen, sie hatte einen Pass, oder?«,
fragte seine Frau. »War die Polizei schon hier?«, erkundigte sich Jim. »Ja. Die
Beamten haben an allen Wohnungstüren gefragt. Wir haben ihnen gesagt, was wir
gehört haben. Sie glauben doch nicht etwa ...«
»Wir sprechen auf jeden Fall mit Herrn Egger, wenn er daheim ist«, sagte Jim und
stand auf. »Bitte erzählen Sie in der Zwischenzeit niemandem etwas. Ich rate Ihnen,
einen schriftlichen Bericht über alles zu verfassen, was Sie über die Sache wissen,
und ihn bei Ihrem Anwalt zu hinterlegen.«
»Ja, gute Idee. Das mache ich sofort«, sagte der aschfahl gewordene Zahnarzt. Er
begab sich sogleich an seinen Schreibtisch.
»Herr Egger wird doch keine Schwierigkeiten bekommen«, fragte Frau Weill besorgt.
»So ein netter Mann! Das täte mir wirklich Leid -«
»Ich kann nichts versprechen«, sagte Jim. »Jedenfalls vielen Dank für Ihre Hilfe.
Welche Nummer hat seine Wohnung?«
Herr Egger war zu Hause und schien ein wenig verärgert zu sein. Er hatte einen
großen Strauß Rosen besorgt, den er der Journalistin aus Madrid verehren wollte,
und
nun
war
sie abgereist,
ohne auch
nur
ihre
Visitenkarte
zu
hinterlassen.
Bestimmt hatte ihr Partner ein tolles Foto des toten Königs im Kasten, aber das war
ein schwacher Trost.
Er lud Jim und die Studenten in sein Wohnzimmer ein. Eine Tür ging auf den Balkon,
von dem aus - da war sich Jim mittlerweile sicher -, der Schuss abgegeben worden
sein
musste.
Das
pomadisierte
Haar
und
der
gewichste
Schnurrbart
des
Zigarrenhändlers, dazu der schwere Duft von Parfüm und Kölnischwasser, all das
bewies, dass die Eitelkeit des Mannes stärker war als sein Sinn für die Grenzen des
guten Geschmacks. Jim begriff, dass es besser wäre, nichts von seinem eigentlichen
Verdacht durchblicken zu lassen. »Ich suche einen Journalisten«, begann er. »Ich
arbeite selbst für eine englische Zeitung und habe erfahren, dass Sie Ihre Wohnung
an einen Kollegen vermietet haben. Der Kollege hat ein paar Informationen für mich,
aber ich kann ihn nicht finden. Sie wissen nicht zufällig, wohin er gegangen sein
könnte?« »Oh, da haben Sie bei mir kein Glück, junger Mann! Sie sind an der
falschen Adresse. Ich weiß, dass es nicht Ihr Kollege gewesen sein kann, der meine
Wohnung gemietet hat. Und wissen Sie, woher?« »Nein«, sagte Jim höflich.
»Weil es eine Lady und kein Gentleman war. Na? Was sagen Sie nun?«
»Erstaunlich«, sagte Jim. Der Mann verursachte ihm Bauchgrimmen.
»Also eine Journalistin. Haben Sie das der Polizei gemeldet?« »Der Polizei?«
»Ja. Offenbar haben sie alle Hausbewohner befragt. Sie suchen den Attentäter.«
»Ich weiß nicht, ob die Polizei hier war oder nicht. Ich habe meinen Dienstboten
heute einen freien Tag gegeben.«
»Sehr großzügig von Ihnen. Diese Journalistin, wie sah sie denn aus?«
»Oh, ein Rasseweib«, schwärmte Herr Egger. »Eine Spanierin. Schwarzes Haar,
schwarze Augen, einfach köstlich ...« Er beschrieb mit den Händen, was er unter
köstlich verstand. »Ihr Name ist Menendez. Ich kenne mich mit spanischen Frauen
aus. Spreche ein bisschen die Sprache. Bin öfter mal in Havanna, geschäftlich. Zigarrenhandel.«
»Hat sie eine Adresse hinterlassen? Für welche Zeitung schreibt sie denn?«
»Keine Adresse. Ich glaube, sie schreibt für ein Modejournal. In Madrid. Sie hatte
einen Fotografen dabei, einen Mann mit einem länglichen Kasten - war wohl ein
Stativ
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