Das Banner des Roten Adlers
drin. Charmantes Frauenzimmer, reife Schönheit, vielleicht zu reif für einen
jungen Kerl wie Sie.« »Hat sie deutsch oder spanisch gesprochen?« »Deutsch, mit
starkem Akzent. Schöne Stimme, wie ein Cello in der Abenddämmerung ... Rauchen
Sie einen Zigarillo? Probieren Sie mal diese hier. Eine neue Sorte, kommt direkt aus
Las Palmas. Ein Glas Wein?«
Zehn Das Kartenzimmer
In den folgenden Tagen schien ein Wirbelwind in Adelaide gefahren zu sein. Sie
gönnte sich fast keinen Schlaf. Sie bestätigte den Grafen im Amt des Privatsekretärs
Ihrer Majestät, schuf die Stellung einer Chefdolmetscherin für Becky und machte
Gräfin Thalgau zu ihrer Kammerzofe. Sie beorderte den Polizeichef herbei und
begehrte von ihm zu wissen, welche Pläne er für die Ergreifung des Mörders hatte.
Ferner befahl sie ihm, Graf Thalgau täglich Bericht über den Fortgang der Ermittlungen zu erstatten. Sie beaufsichtigte die Vorbereitungen für König Rudolfs
Begräbnis. Sie ließ alle Hofbediensteten, vom Haushofmeister bis zur Küchenmagd,
antreten und ließ sie wissen, was sie von einem jeden erwartete. Sie plante eine
Reihe von Mittagessen, zu denen sie nach Ablauf der offiziellen Trauerzeit führende
Persönlichkeiten
des
Landes
einladen
wollte.
Sie ging
barhäuptig
hinter dem
Leichenwagen, der die sterbliche Hülle des Königs in den Dom brachte. Sie büffelte
täglich zwei Stunden Deutsch und machte ungewöhnliche Fortschritte. Sie ließ bei
der englischen Botschaft um ein Exemplar des Ausstattungskatalogs für Heeres- und
Marineangehörige bitten, stürzte sich freudig darauf und bestellte jedes verfügbare
Spiel von A wie Animal Misfitz bis Z wie Zelo. Danach erlitt sie das, was der
Königliche
Leibarzt
als
nervliche
Erschöpfung
bezeichnete,
und
schlief
vierundzwanzig Stunden, ohne auch nur einmal aufzuwachen. Schon bald nahm die
neue Struktur der königlichen Hofhaltung Gestalt an. Der Oberhofmeister Baron Gödel, Jims Feind, konnte nicht aus dem Amt vertrieben, aber umgangen werden. Von
nun an war Graf Thalgau die Schaltstelle, über die Adelaides Anordnungen an den
Hof oder in die Welt draußen weitergeleitet wurden. Der Kreis der Personen, mit
denen sie vertrauten Umgang pflegte, war sehr klein: Er bestand aus Becky und der
Gräfin. Letztere war zwar keine besonders spritzige Gesellschafterin, aber immerhin,
so sagte sich Adelaide, konnte man sich auf sie verlassen. Becky versuchte, ihre
Spielstärke im Schach zu verbessern, und machte tatsächlich Fortschritte. Über ein
Kammermädchen erfuhr sie, dass eine Katze kürzlich Junge bekommen hatte. Sie
ließ sie holen, suchte eines aus und schenkte es der Königin. Adelaide machte es
sogleich zu ihrem Königlichen Kammerkätzchen. Es war pechschwarz und sollte ihr
Glück bringen. Sie nannte es Milchbart.
Da Adelaides Deutsch immer besser wurde, änderte sich Beckys Rolle: Aus der
Dolmetscherin wurde nach und nach eine Ratgeberin, die gemeinsam
mit der
Königin Neues lernte. Im Schriftlichen war Adelaide noch nicht so firm, deshalb
übten
die
beiden
jungen
Frauen
gemeinsam
den
Umgang
mit
offiziellen
Denkschriften und ließen sich Bericht erstatten über die Fördermengen an Nickelerz
aus dem Karlsteinbergwerk, über die Zollverhandlungen mit Deutschland und die
geschätzten Steuereinnahmen.
Dann verlangte Adelaide mit dem Kanzler zu sprechen. Er war der erste Mann im
Senat, der Inhaber des höchsten politischen Amtes im Land. Nicht dass das viel bedeutet hätte, da er nicht demokratisch gewählt, sondern von König Wilhelm ernannt
worden war. Die Begegnung mit dem amtierenden Kanzler, einem älteren Herrn
namens Baron von Stahl, war für beide Seiten belehrend. Er wusste anfangs nicht,
wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, und verfiel darauf, mit ihr zu flirten.
Dem setzte sie rasch ein Ende.
»Soviel
ich
weiß,
genoss
es
Königin
Victoria,
von
Premierminister
Disraeli
umschmeichelt zu werden«, sagte sie streng. »Sie war eben eine alte Frau. Wenn ich
einmal so alt sein werde wie Königin Victoria, können Sie das Gleiche auch mit mir
machen. Bis dahin aber bin ich nicht in Stimmung für solche Scherze, denn ich trage
Trauer, und außerdem gibt es genug junge Männer, die besser flirten können als Sie.
Wenn ich Respekt vor Ihnen haben soll, dann geben Sie mir einen ehrlichen Bericht
über den Senat und lassen Sie das galante Gewäsch.«
Becky musste alles getreu übersetzen, weil Adelaide mittlerweile so viel Deutsch
verstand, dass sie ihr folgen konnte. So
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