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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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verbrachte sie ein paar peinliche Minuten
zwischen Adelaide, deren Augen zu Schlitzen verengt waren, und dem Kanzler, dem
sie vor Verblüffung beinahe herausfielen. Doch der alte Mann war kein schlechter
Mensch; er fasste sich rasch wieder, sprach in respektvollem Ton zur Königin und
gab ihr einen ausführlichen und ungeschminkten Bericht. Und als hätten sie es nicht
schon geahnt, stellte sich das Verhältnis zu Deutschland und Österreich-Ungarn tatsächlich
als
das
vordringlichste Problem
heraus.
Beide Staaten
wollten
sich
Raskawien
einverleiben,
nicht
wegen
der Weinberge,
Burgen
und
Solequellen,
sondern
wegen
der
Nickelerze aus
den
Bergwerken
des
Karlsteingebirges.
Die
Stahlkocher in Essen hatten Appetit darauf und Kaiser Franz-Josef gönnte es ihnen
nicht, denn das hätte Bismarck und Kaiser Wilhelm einen Vorteil verschafft. In
diesem Punkt zu einer Lösung zu kommen, war drängender als die Probleme im
Land, wie zum Beispiel der Rebenmehltau in Neustadt, die sinkenden Einnahmen
aus dem Kasino in Andersbad und die Suche nach neuen Kapitalgebern für die Eisenbahngesellschaft.
    Adelaide hörte dem Kanzler aufmerksam zu und dankte ihm schließlich. Kaum war
er gegangen, entschied sie, die Nickelbergwerke zu besichtigen und sich selbst ein
Bild
zu
verschaffen.
Graf
Thalgaus
Einwand,
es
sei
unziemlich,
während
der
Staatstrauer einen solchen Besuch zu machen, wischte sie beiseite und befahl, den
königlichen Zug für eine Reise nach Karlstein bereitzumachen. An einem sonnigen
Herbstmorgen dampfte sie mit ihrem Gefolge die fünfundsechzig Kilometer bis
Andersbad und von dort auf der Nebenstrecke bis Karlstein.
    Die Bergleute samt
ihren
Familien
hatten
sich
am
Bahnhof
zur
Begrüßung
versammelt. Adelaide war mittlerweile mit dem roten Teppich und der Willkommensrede vertraut und ihre Erwiderung gelang ihr sehr gut. In ihrer Muttersprache
hatte sie nie versucht, den breiten Akzent der Londoner Göre loszuwerden. Wenn
sie englisch sprach, schien sich ihr ganzes Wesen in einer Form rauer Herzlichkeit zu
entspannen; aber wenn sie deutsch sprach, nahm sie eine aufrechte Haltung ein, sie
bewegte sich graziöser und strahlte etwas aus, für das Becky weder im Deutschen
noch im Englischen ein treffendes Wort finden konnte, sondern nur im Französischen: chic. Sie war sehr chic an diesem Morgen in Karlstein und die Menge
bewunderte sie. Der Obersteiger, der die Besichtigung leitete, war ein junger Mann
mit Lockenhaar namens Köpke. Er spürte rasch, dass sich die Königin wirklich für die
Sache interessierte und
er
ihr
technische Dinge erklären
konnte,
ohne alles
schrecklich vereinfachen zu müssen. Doch als sie darauf bestand, unter Tage zu
gehen, war er perplex.
    »Aber Majestät, darauf sind wir nicht vorbereitet - die Verhältnisse unter Tage sind
kaum -« Sie funkelte ihn an: »Wenn das Bergwerk sicher ist, kann ich ohne Gefahr
einfahren. Ist es das aber nicht, möchte ich selbst sehen, was meine Untertanen
alles auf sich nehmen müssen.«
    Ihre Antwort verbreitete sich binnen einer Stunde in ganz Karlstein und der Jubel bei
ihrem Abschied klang noch begeisterter als auf dem Felsen von Eschtenburg. Becky
sah von alledem nichts. Ohne es gewusst zu haben, litt sie an Klaustrophobie, einem
angeborenen Angstgefühl in engen, geschlossenen Räumen. Kaum war die kleine
Untertagebahn aus dem hellen Sonnenlicht in den dunklen Schacht gefahren, ergriff
sie eine beklemmende Angst. Sie machte die Augen zu und hielt sie so lange
geschlossen, bis die Bahn wieder ans Tageslicht kam. Adelaide sah sie streng an. »Ich
hoffe, du hast dir über alles Notizen gemacht«, sagte sie. »Statt zu schmollen,
hättest
du
ruhig
Interesse zeigen
und
die Leute aufmuntern
können.«
Der
Obersteiger machte eine tiefe Verbeugung und küsste Adelaide zum Abschied die
Hand.
Sie warf
ihm
einen
schmachtenden
Blick
zu,
worauf
er errötete.
Das
wiederum gab Becky Anlass, mit Adelaide zu schimpfen.
    Ehe sie diesen Landesteil verließen und nach Eschten-burg zurückkehrten, wollte
Adelaide noch die Burg Wendelstein besichtigen, wo Walter von Eschten den Sieg
über
Ottokar
IL
davongetragen
hatte.
Die Burg
lag
anderthalb
Kilometer von
Andersbad entfernt auf einer bewaldeten Bergkuppe, zu der ein Pfad hinaufführte.
Graf Ottos Familiensitz befand sich ganz in der Nähe, und die Höflichkeit hätte
eigentlich verlangt, der Königin seine Aufwartung zu machen, doch es hieß, der Graf
weile außer Landes, er sei auf Großwildjagd in Ostafrika.
    Burg Wendelstein

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