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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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nach einem Stadtplan von London zu suchen und zu
schauen, ob die Straße, in der sie gewohnt hatte, eingezeichnet war. Erst jetzt
merkte sie, dass es keinen Katalog im Kartenzimmer gab. Wo hatte wohl der alte
König nachgeschaut, wenn er etwa eine Karte von Westafrika suchte?
    Ihr nimmermüder Geist grübelte eine Weile über dieser Frage, dann erinnerte sie
sich daran, dass es im Vorraum vor dem Kartenzimmer ein kleines Kabinett gab, in
dem sie noch nicht nachgeschaut hatte. Vielleicht fand sie dort etwas.
    Sie öffnete die Tür und ging hinein. Anders als die meisten Türen im Schloss hing
diese nicht gerade in den Angeln und fiel langsam hinter ihr zu. Nachdem sie ein
paar Minuten in den Karteikarten des Katalogs, der sich tatsächlich hier befand,
geblättert hatte, hörte sie plötzlich Stimmen von nebenan. Dass sie im Kabinett war,
musste den Leuten unbemerkt geblieben sein.
    Sie hatte nicht die Absicht gehabt, sich zu verstecken, doch schien es nicht nötig, zu
husten oder zu stampfen oder ein Buch auf den Boden fallen zu lassen, um auf ihre
Anwesenheit
hinzuweisen.
Sicherlich
waren
die anderen
aus
einem
ebenso
harmlosen Zweck hierher gekommen wie sie. Und tatsächlich erkannte sie eine der
Stimmen als die des Grafen. Doch der Ton war ein anderer als gewohnt: Ein beinahe
schroffes, nervöses Drängen lag darin. Die andere Stimme sprach im akkuraten,
pedantischen
Ton
eines
Schulmeisters.
Nachdem
Becky
mitbekommen
hatte,
worum es bei dem Gespräch der beiden ging, war es zu spät zum Weghören. »Wie
ich erfahren habe, Herr Bangemann, besitzen Sie eine seltene Gabe«, sagte der Graf.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gern davon überzeugen. Ich habe
hier ein Schriftstück.« Eine Schublade quietschte, ein Blatt Papier raschelte. »Wie
lange brauchen Sie für die erste Seite?« »Nur so lange, wie ich zum Durchlesen
brauche. Sagen wir eine Minute?«
»Sehr schön. Ich schaue auf die Uhr.«
     
Stille, in der Becky unwillkürlich mitzählen musste.
    Offensichtlich
war
sie langsamer
als
die Uhr
des
Grafen:
Sie war
gerade bei
fünfundfünfzig angekommen, als
der Graf sagte, dass die Zeit um sei.
Wieder
raschelte Papier und Herr Bangemann räusperte sich kunstgerecht, ehe er loslegte.
    »Bericht über die Expedition zu den Quellflüssen des Orinoco und Rio Bravo, die
unter der Federführung der Königlichen Geographischen Gesellschaft in den Jahren
1843 bis 1844 stattgefunden hat ...« So ging es eine Weile fort, wobei deutlich
wurde, dass er den Text auswendig vortrug.
»Phänomenal«, staunte der Graf. »Wort für Wort. Aber eine weitere Frage: Wie viel
Text können Sie im Gedächtnis behalten?«
    »Eine nicht unbeträchtliche Menge«, sagte Herr Bangemann bescheiden. »Ich hatte
bisher noch keine Gelegenheit, mehr als sechzig Seiten im Kanzleiblattformat zu
memorieren, bin aber zuversichtlich, mir noch mehr einprägen zu können.«
    »Und Sie brauchen es sich nur einmal anzuschauen?« »Richtig. Als Kind habe ich
einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen, von daher rührt diese Gabe, vielleicht als eine Art Ausgleich für das Unglück.« »Erstaunlich ... Nun, wie ich vermute,
haben Sie Familie.«
    »Ich
habe fünf
Töchter,
Eure
Exzellenz.
Allesamt
gesunde,
begabte
Mädchen.
Freilich liegen sie mir auf der Tasche. Der Lohn eines Schreibers ...« »Ich verstehe.
Nun, Herr Bangemann, ich brauche einen Mann mit Ihrem Talent. Es handelt sich
um einen vertraulichen, um nicht zu sagen streng geheimen Auftrag ...«
    Er brach ab. Beckys Herz begann zu rasen. Hatte er sie gehört? Doch dann knarrte
nur die Tür nach draußen, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Darauf fuhr
der Graf noch leiser fort: »Wie ich bereits sagte, ein vertraulicher Auftrag. Niemand
darf davon erfahren, haben Sie mich verstanden?«
»Exzellenz können sich wie immer ganz auf mich verlassen.«
    Am
Ende
hatten
sie nur
noch
geflüstert.
Becky
ertappte sich
dabei,
wie sie
angestrengt horchte. Das war das erste Mal, dass sie so etwas tat, und sie hatte
keine Freude daran. Vom Rest des Gesprächs der beiden Männer bekam sie nichts
mehr mit, nur der Klang von Münzen war gegen Ende deutlich zu hören. Schließlich
wurde die Tür nach draußen geschlossen, dann herrschte wieder Stille. Becky blieb
noch eine Weile, wo sie war, dann wagte sie sich vorsichtig heraus. Sie war verstört,
denn bisher hatte sie den Grafen immer für gerade und aufrecht wie den Felsen von
Eschtenburg gehalten; aber im Kartenzimmer hatte er plötzlich

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