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Das Banner des Roten Adlers

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Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Delegationen gingen daran, dem Vertragstext
in seiner beschlossenen Fassung seine endgültige schriftliche Form zu geben, damit
er am folgenden Tag feierlich unterzeichnet werden konnte. Die Königin und die
Delegierten
besuchten
gemeinsam
mit
den
Vertretern
anderer
Staaten
eine
Galavorstellung in der Oper. Becky ging ins Bett. Um acht Uhr fuhr Herr Bangemann
(dessen fünf Töchter wie die Orgelpfeifen aufgereiht dastanden) mit der
    Löschwiege über die Seite, die er ins Reine geschrieben hatte, und reichte sie dem
Chefsekretär.
Dann
nahm
er Hut
und
Mantel
und
verabschiedete
sich.
Der
Chefsekretär prüfte die Arbeit. Der Vertragstext war tadellos bis aufs letzte Komma
in gestochener Schrift auf edles Pergament niedergeschrieben. Zusammen mit den
anderen
beiden Abschriften
legte er ihn in
den Tresor, verschloss diesen
und
wechselte dann schnell die Kleidung, um noch rechtzeitig in die Oper zu kommen.
    Unterdessen war Herr Bangemann schon in einer Droschke auf dem Weg zu einem
herrschaftlichen Haus unweit des Kasinos auf den bewaldeten Hügeln am Westrand
der Stadt. Seine rundliche Gattin wartete brav daheim; Suppe mit Klößen stand auf
dem Herd; und die fünf Töchter warteten darauf, ihm von ihrem Schultag Bericht zu
erstatten.
    Doch
Herr
Bangemanns
Schreiberlohn
hätte
nicht
gereicht,
um
Gretls
Klavierstunden, Inges neues Kattunkleid, Berthas Winterhut, Annas Satinschuhe und
Marlenes Ballettunterricht zu bezahlen, von den Pralinen, die Frau Bangemann so
gerne aß, ganz zu schweigen. Alle glaubten, das Familienoberhaupt bekleide einen
wichtigen Posten, weil er noch so spät am Abend arbeitete und ihnen so manchen
kleinen
Luxus
kaufte.
Und
in
gewisser
Hinsicht
hatten
sie damit
Recht.
Herr
Bangemann bezahlte den Kutscher, zog an der Türglocke, gab dem öffnenden Diener
Hut und Mantel und wurde von diesem in ein Arbeitszimmer geführt, in dem ein
munteres Kaminfeuer brannte. Zwei Männer saßen dort, der eine in einem Sessel,
der andere an einem Tisch, auf dem mehrere merkwürdige Apparate standen:
Mahagonikisten mit Messingklemmen, Spulen aus Kupferdraht und ein Instrument,
das eine Klaviatur besaß, deren Tasten mit den Buchstaben des Alphabets versehen
waren. Von den Klemmen liefen gummiumwickelte Drähte hinauf zur Decke und
verschwanden dort in einem dunklen Loch. Von dem ganzen Apparat ging ein
deutlich vernehmbares elektrisches Summen aus.
    Herr Bangemann warf einen Blick auf das Gerät, ehe er dem Mann im Sessel einen
guten Abend wünschte. »Guten Abend, Herr Bangemann«, sagte der Gastgeber.
»Nehmen Sie am Tisch drüben Platz und beginnen Sie, wenn Sie so weit sind.«
    Auf einem kleineren Tisch standen eine Karaffe Wasser und ein Glas bereit. Der
Telegrafist lockerte seine Finger. Herr Bangemann setzte sich, räusperte sich, schloss
die Augen und versammelte auf der Tafel seines fotografischen Gedächtnisses den
vollständigen Text des Dreiländervertrags.
»In Anbetracht der Tatsache, dass ...«, begann er.
    Eine Winterlandschaft:
im
Hintergrund
eine Burg
auf
einem
mit
Nadelwald
überzogenen Berg; im Vordergrund eine Zeile Fachwerkhäuser; darüber Schneeflocken, die herabrieseln, sich gemächlich auf dem Kopfsteinpflaster niederlassen,
dann wieder aufgewirbelt werden, um erneut herabzurieseln. Es könnte Raskawien
sein. In Wirklichkeit ist das Ganze jedoch nur drei Zoll groß und steckt in einer mit
Flüssigkeit gefüllten Glaskugel, in der man es durch Schütteln schneien lassen kann.
Dieses
Kinderspielzeug
befindet
sich
gerade in
der Hand
einer anderen
uns
bekannten Person: des Berliner Bankiers Gerson von Bleichröder.
    Er
hebt
es
in
Augenhöhe,
schaut
hinein
und
stellt
es
wieder sanft
auf
den
Schreibtisch. Es ist der einzige Schnee, der um diese Zeit in Berlin fällt; das Wetter ist
kalt, aber die Straßen sind trocken. Bleichröder geht ans Fenster, schaut auf die gut
beleuchtete Behrenstraße hinab und klopft, die Hände im Rücken, mit einer flachen
Hand gegen die andere.
    Er wartet, dass das Klappern des Telegrafenapparats in der Ecke des Büros endlich
aufhört, und nun ist es so weit. Julius, sein Sekretär, der den viele Meter langen
Papierstreifen
in
einem
Weidenkorb
gesammelt
hat,
reißt
das
Ende ab
und
verkündet: »Es ist so weit. Die Nachricht ist übermittelt.« »Gut. Ich höre, Julius.«
    Julius hebt die Augenbrauen und geht die Papierschleifen auf der Suche nach dem
Anfang durch. Als er mit dem Vorlesen beginnt, kehrt der Bankier an seinen Platz
zurück und nimmt seine gewöhnliche

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