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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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anrührend. Ich hätte es gern
einmal gesehen ... Aber warum muss das Mädchen verschwinden? Überlegen Sie,
Julius, das verborgene Motiv. Schauen Sie hinter die Kulissen.«
»Der Vertrag ...«
     
»Ja. Was wird wohl der Chef von diesem Vertrag halten?«
    Julius überlegt: Der Vertrag scheint für alle Parteien Vorteile zu bringen - folglich
muss irgendetwas daran faul sein. Die offizielle deutsche Politik zielt auf vertragliche
Regelungen
-
daher
muss
Bismarcks
private Politik
danach
trachten,
diese
Regelungen zu unterlaufen.
Es sei denn, er verfolgt wirklich, was er anzustreben vorgibt; in diesem Fall ... »Der
Chef möchte den Vertrag verhindern, um ... ein besseres Ergebnis zu erzielen?«
     
»Nicht ganz, Julius. Der eigentliche Plan sieht folgendermaßen aus:
    Der Chef möchte die Macht des Parlaments beschneiden. Der Vertrag ist eine Sache
des Reichstags, nicht des Reichskanzlers. Wenn der Vertrag zu Fall kommt, wird das
eine Bestätigung des Urteils des Reichskanzlers sein. Und nebenbei springt noch ein
Vorteil
heraus:
Der Chef
hat
es
auf
das
gesamte Nickelvorkommen
dieses
malerischen kleinen Landes abgesehen. Krupp braucht es. Der Vertrag aber würde
das verhindern, deshalb darf er nicht in Kraft treten. Können Sie mir folgen?«
»Gewiss.«
    »Damit nicht genug. Morgen wird es in der raskawischen Hauptstadt zu Unruhen
kommen. Als Geste
des nachbarlichen Beistands wird der Chef ein Grenadierregiment schicken, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Soldaten sind schon
dabei, den Zug zu besteigen.«
    Julius staunt. Nur wenige haben wie er das Privileg, im Herzen Europas in einem
stillen Büro zu sitzen und die geheimen Schachzüge der großen Politik zu durchschauen.
»Ich verstehe. Aber ... Graf Thalgau und der mysteriöse Prinz Leopold, wie hängen
die zusammen?« »Überhaupt nicht, mein lieber Julius. Wenn der arme
    Thalgau den ersten Absatz des Briefes liest, wird
er wie vom Donner gerührt
dastehen. Und wenn er den letzten Satz liest, wird ihm das Gleiche passieren. Ich
habe zufällig erfahren, dass die konservativen Elemente den Kronprinzen lange Zeit
als Trumpfkarte im Ärmel behalten haben. Sie wollten diese Karte schon am Tag der
Krönung des englischen Mädchens ausspielen, aber das Mädchen war zu stark für
sie.«
Julius ist verblüfft. »Wollen Sie damit sagen, dass ... das Attentat ...«
    »War geplant, ja. Erinnern Sie sich an die spanische Schauspielerin? Ich hatte von ihr
gesprochen. Sie war mit Prinz Leopold verheiratet. Ein eigensinniges Frauenzimmer,
leidenschaftlich und heißblütig. Sie kennen die Frauen, Julius. Tatsächlich ist diese
hier ein Torpedo. Man braucht sie nur mit Zünder und Ladung zu versehen, auf das
gewünschte Ziel auszurichten, abzudrücken - und der Treffer ist garantiert. Die arme
Frau bildet sich ein, sie habe alles selbst ins Werk gesetzt. Dabei war alles im Voraus
geplant. Der einzige Unsi-cherheitsfaktor war das englische Mädchen. Es war zu
stark und es ist beim einfachen Volk zu beliebt. Nun, das wird sich sehr bald ändern.
Und
der
arme Graf
Thalgau,
der glaubt,
was
jetzt
noch
komme,
sei
nur
ein
vertraglich festgesetzter sechsmonatiger Aufschub ...«
     
»Hat man ihm das gesagt?«
    »Oh ja. Er hätte seiner kleinen englischen Königin nicht unrecht tun wollen. Wir
sagten ihm, wir brauchten nur einen kleinen Aufschub, danach komme alles ins
Reine. Und nun muss er feststellen, dass der Boden unter seinen Füßen wegbricht ...
Ach Gott. Und er muss glauben, dass wir annehmen, er wisse über alles Bescheid
und sei Teil der Verschwörung ...« Julius ist sprachlos. Bleichröder lächelt versonnen
und schaut zur Decke, dann räuspert er sich und setzt sich aufrecht.
    »Na, na, junger Mann, dergleichen geschieht zu allen Zeiten. In ein, zwei Jahren
werde ich mich beim Chef für den guten Thalgau verwenden. Wir schaffen irgendeinen Posten für ihn - Provinzgouverneur oder so etwas. Ich denke, man muss sich
Freunde schaffen, nicht Feinde. Wissen Sie, das Bankgeschäft gedeiht im Frieden.
Das ist eine wichtige Erkenntnis. Nun lesen Sie mir den Brief noch einmal vor.«
Während der Sekretär vorliest, sitzt Bleichröder wieder zurückgelehnt und hört zu.
Hin und wieder schlägt er eine kleine Änderung vor, dann schickt er den jungen
Mann mit dem Auftrag fort, den Brief dem Telegrafisten zu geben, der ihn in
Morsezeichen übersetzen und umgehend an das herrschaftliche Haus im Wald
unweit des Kasinos übermitteln soll.
    Dann greift er wieder zu dem gläsernen

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