Das Banner des Roten Adlers
Spielzeug und schüttelt es noch einmal.
Keine zwei Zoll weit hält er es vor sein rechtes Auge und versucht vergeblich, die
wirbelnden Schneeflocken zu erkennen: Er sieht nur einen verschwommenen Fleck.
Schon vor einiger Zeit hat er auf dem linken Auge die Sehkraft eingebüßt und nun
kann er auch mit dem rechten nur noch hell und dunkel unterscheiden.
Die Schneeflocken in der Glaskugel wirbeln und tanzen und lassen sich auf der
Landschaft nieder, die derjenigen in Raskawien so ähnlich ist, doch er sieht nichts
davon.
Vierzehn Betrug
Tief im Schlaf hörte Becky es klopfen und murmelte: »Hau ab! Zieh Leine!«
Doch der Störenfried ließ sich nicht abwimmeln. Wieder klopfte es und die Tür
öffnete sich einen Spalt. »Ich bin's«, ließ sich Jims Stimme vernehmen. »Ich muss
mit dir reden. Schläfst du? Na, du kannst von Glück reden. Ich schüre die Glut und
mache dir etwas Heißes zu trinken.«
Sie knurrte.
Er
schloss
die Tür.
Noch
halb
im
Schlaf
tastete sie nach
ihrem
Morgenmantel. Als sie sich nach einer Minute barfuß, mit ungekämmten Haaren
und verschlafenen Augen in den kleinen Salon schleppte, sah sie, wie er, eine
Flasche Wein in der Hand, am Kamin stand und das Feuer neu anfachte. Mit Hosen
aus grobem Leinen, Schuhen mit Gummisohlen und dem blauen Seemannspullover,
den Mrs Goldberg ihm gestrickt hatte, sah er aus wie ein Matrose. Über einer
Stuhllehne lag eine schwere Joppe.
»Für wen hältst du dich eigentlich?«, fragte sie ärgerlich. »Und Wein mag ich nicht.
Ich möchte Kakao. Heiße Schokolade. Ist dir eigentlich bewusst, wie müde ich bin?
Was soll ich mit Wein? Und du brauchst auch keinen, du hast den Bauch voller Bier,
das kann ich riechen, puh! Wenn du ein Gentleman wärst, würdest du nie ohne
Schokolade in jemandes Zimmer eindringen. Hol mir eine Tasse. Ach so, das geht ja
nicht. Die Diener schlafen alle schon und du würdest die Küche in Brand setzen.
Weshalb bist du eigentlich gekommen?« »Ich könnte auch einen Tee machen«, bot
Jim an. »Ich habe alles ...«
»Tee - bäh. Englisches Spülwasser. Was willst du eigentlich?«
»Ich will, dass du mir zuhörst. Setz dich und halt den Schürhaken ins Feuer.« »Oh Glühwein. Das ist was anderes ...« Er holte Papiertütchen aus der Jackentasche,
schüttete Zucker und eine Prise Gewürz in zwei Gläser und füllte sie mit Rotwein
auf. Als der Schürhaken heiß war, tauchte er ihn vorsichtig in den Wein, so dass das
Gebräu zischte und blubberte.
»Vielleicht ein bisschen rußig, aber es wird schon gehen«, sagte er und reichte ihr
ein Glas. Sie setzte sich nahe ans Feuer, die Füße am Kamingitter, und umfasste ihre
Knie. Während er sprach, trank sie schlückchen-weise den dampfenden Glühwein.
Er erzählte ihr alles, was seit ihrer letzten Begegnung auf der nächtlichen Terrasse
vor zwei Tagen geschehen war. Sie hörte ihm staunend zu. Nach der Arbeit der
vergangenen beiden Tage meinte sie, über Politik Bescheid zu wissen; dass sie ein
schwieriges, aber lauteres Geschäft sei, in dem man durch Verhandlungen und
Kompromisse schließlich zum Ziel komme. Da hatte sie sich gründlich getäuscht!
Denn die ganze Zeit über nahm unterschwellig eine andere Politik ihren Lauf. Und
diese einfache, aber heimliche Politik setzte Grausamkeit und Gewalt ein.
»Ich bin ... entsetzt«, sagte sie. »Baron Gödel hat
den armen Mann
in einer
Irrenanstalt einsperren lassen? Ich fasse es nicht ... Und was ist mit der Frau? Du
sagst, sie hat König Rudolf ermordet. Wo ist sie jetzt?« »Sie ist bei Karl und den
anderen - gut bewacht. Wir brauchen sie, um Leopold zu befreien. Sie sind auf dem
Weg
hierher.
Wenn
wir
ihn
erst
einmal
rausgeholt
haben,
können
wir
Gödel
festnehmen und ihm das Handwerk legen. Dann hat der ganze Spuk ein Ende.«
»Was soll mit der Frau geschehen?« »Sie ist eine Mörderin, Becky.« »Aber was
geschieht mit ihr?« »Wir übergeben sie der Polizei.« »Und was geschieht dann mit
ihr?« »Sie kommt vor Gericht. Auf Mord steht Tod durch den Strang. Aber ich sorge
dafür, dass bei ihr auf Schuldunfähigkeit erkannt wird. Dann kommt sie in eine
Anstalt, anstelle des Prinzen. Das wäre eine sehr ironische Wendung, findest du
nicht?« »Aber fair wäre es wohl kaum. Sie hat es ja aus Liebe
zu ihrem Mann getan, und nun verleitet ihr sie dazu, euch zu helfen, und dann
verratet ihr sie.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und starrte, die Ellbogen
auf die Knie gestützt, auf den Fußboden. »Man könnte es so sehen«, sagte er.
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