Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
Sitzposition ein, zurückgelehnt und die Hände
im Nacken. Nase und vorspringendes Kinn sind bewegungslos, aber die Augen unter
den
schweren
Lidern
springen
lebhaft
hin
und
her,
als
ob
sie jede mögliche
Konsequenz jedes vorgelesenen Satzes erspähen wollten. Nach dem letzten Wort
lässt Julius das Papierband wieder in den Korb fallen. »Das ist alles«, sagt er. »Schön.
Wartet der Kurier?«
»Jawohl.«
    »Gut. Dann schicken Sie die Nachricht an den Chef.« Julius betätigt eine Klingel und
weist einen Bediensteten an, das Papierband aufzuwickeln, in ein Kuvert zu stecken
und es dem im Vestibül wartenden Kurier mitzugeben.
Bleichröder setzt sich aufrecht und reibt sich tatkräftig die Hände.
     
»So, Julius, nehmen Sie einen Bogen Briefpapier. Können Sie gut sehen? Brauchen
Sie mehr Licht?« »Danke, ich sehe gut.«
     
»An Seine Exzellenz, Graf Emil Thalgau ... Mit Sonderkurier, Julius. Adressieren Sie es
an den raskawischen Hof in Eschtenburg.«
     
Julius schreibt alles in seiner sauberen Kurzschrift auf schweres Briefpapier.
    »Mein verehrter Graf Thalgau«, diktiert der Bankier. »Mit großer Freude habe ich
von
der
bevorstehenden
Thronbesteigung
Seiner Königlichen
Hoheit
Leopold
erfahren.
Ich
nehme
an,
dass
die anhaltende Pflege
und
Bemühung seiner Gesundheit sehr förderlich gewesen sind.
Kronprinz
ärztliche
     
Die konstitutionellen ... Nennen Sie mir doch ein Synonym für Hindernisse, Julius.«
     
»Wie wäre es mit >Hürden    »Ja, das ist gut. Die konstitutionellen Hürden, die einer sofortigen Amtsausübung
noch im Weg stehen mögen, haben weder für das Bankhaus Bleichröder noch - und
das ist wichtiger - für Fürst Bismarck irgendeine Bedeutung.«
Er hält inne und streicht einen Augenblick lang mit der Hand über die Glaskugel. Der
Sekretär wartet mit gezücktem Stift.
    Bleichröder fährt fort. »Ich habe eine kleine Prüfung für Sie, Julius. Ich habe vom
englischen Botschafter Folgendes erfahren: London wird nichts unternehmen, um
das englische Mädchen, das durch eine Laune des Schicksals zur Königin wurde, zu
stützen; im Gegenteil, für die englische Diplomatie schafft sie nur Verlegenheit; kurz,
der englische Löwe würde nicht einmal mit dem Schwanz zucken, wenn diesem
Geschöpf etwas Fatales zustieße. Kleiden Sie das in diplomatische Sprache, Julius.«
    Der Sekretär runzelt die Stirn, überlegt kurz und fährt im Anschluss an das bisher
Geschriebene fort: »Gleiches gilt für die englische Regierung. Aus gut unterrichteten
Kreisen an höchster Stelle ist zu erfahren, dass London eine Rückkehr zur normalen
dynastischen Erbfolge in jedem Fall vorzieht.«
»Ausgezeichnet, junger Mann! Schreiben Sie das nieder.«
    Der
Sekretär
schreibt
und
Bleichröder
diktiert
weiter:
»Hinsichtlich
des
Dreiländervertrags wird Seine Exzellenz, der Reichskanzler Fürst Bismarck, in Kürze
seine Anordnungen bekannt geben. Entsprechend unserer Vereinbarung bestätige
ich die Überweisung der ersten Hälfte der vereinbarten Summe in Höhe von achtzigtausend Mark auf ein Konto bei der Bank Rothschild. Der Rest kommt am Tag nach
der Krönung von Kronprinz Leopold zur Zahlung.
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung, Ihr Ger-son von Bleichröder.
Das wär's, Julius. Sonderkurier. Der Brief muss bis morgen früh in Eschtenburg sein.«
     
»Jawohl.«
     
Bleichröder lehnt sich wieder zurück, die Hände im Nacken verschränkt.
    »Nun, Julius, erzählen Sie mir, was Sie zwischen den Zeilen dieser Korrespondenz
lesen.« »Zuerst einmal, dass Graf Thalgau in finanziellen Schwierigkeiten steckt, aus
denen er sich mit Hilfe des Bankhauses Bleichröder zu retten hofft.« »Richtig. Sein
gesamter Landbesitz ist mit Hypotheken belastet; er konnte die Raten nicht mehr
tilgen und wäre unweigerlich Bankrott gegangen. Er ist Patriot wie kein Zweiter,
aber nun wird sein Besitz, sein Schloss, ihm gehören, ganz gleich, was mit Raskawien
geschieht. So weit ist alles richtig, aber sachte, junger Mann. Sie haben doch die
Akten gelesen.«
»Es gibt einen Plan, das englische Mädchen vom Thron zu entfernen und Prinz
Leopold an seine Stelle zu setzen ... Ist er der dynastische Thronerbe? Ich dachte, er
sei tot. Und ist der Anspruch des englischen Mädchens nicht auch rechtmäßig?«
    »Ja, er ist der dynastische Thronerbe, obwohl er vermutlich geistig umnachtet ist.
Aber ihr Anspruch ist ebenso berechtigt wie seiner. Sie kennen doch das malerische
Ritual der Raskawier, diese Fahnenübergabe. Wirklich

Weitere Kostenlose Bücher