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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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oder Gonzalez. Im
Augenblick habe ich alle Macht und Sie keine. Setzen Sie sich jetzt.«
    »Engländer«, stieß sie hervor. »Sie sind Engländer.« »Richtig.« Sie hatte sich noch
immer nicht gerührt. Erst als Jim auf den Stuhl zeigte, ging sie widerwillig und stolz
dorthin, drehte sich majestätisch und setzte sich. Sie atmete heftig, ihr Busen wogte
unter
dem
roten
Seidenstoff,
ihr
Mund
war
zu
einer
verächtlichen
Grimasse
verzogen.
    »Sie ist auch Engländerin«, fuhr sie in giftigem Ton fort. »Dieses Londoner Flittchen,
diese hübsch zurechtgemachte Null. Eigentlich sollte ich ihren Platz einnehmen.
Dieses Kind. Ein Kätzchen mit blinden Augen und Milchbart! Was weiß sie denn?
Und ihr Mann, dieser Clown. Das ewige Kind. Schauen Sie sich diese Göre an und
dann mich, das ist doch kein Vergleich! Sie ist eine Niete neben mir! Schäbig,
gemein, vulgär, ungehobelt, unwissend, dumm - dumm und nichtig!« »Wann haben
Sie herausgefunden, dass Ihr Mann noch lebt?«, fragte Jim unvermittelt.
    Sie zuckte
zusammen
und
schien
ihrer
Aufmerksamkeit
gewaltsam
eine
neue
Richtung zu geben. »Vor einem Jahr. Seine alte Kinderfrau schrieb mir. Sie hatte das
Gefühl, dass es mit
ihr zu
Ende
ging, und fühlte sich schuldig. Sie hatte alle
Zeitungsausschnitte aufgehoben! Von jeder Aufführung in Europa, bei der ich mitgewirkt habe! Das muss man sich mal vorstellen! Sie hat sich um ihn gekümmert, als
er in der Irrenanstalt war, und alles für ihn aufgehoben. Aber sie fühlte sich schuldig,
sie wollte im Frieden mit sich selbst sterben. Deshalb schrieb sie mir. Ich war
überrascht ... Aber ich wusste es. Ich habe immer gewusst, dass er noch lebt. Mein
Herz war im Gefängnis, aber nicht im Grab. Ich konnte fühlen. Und ich wusste, dass
er am
Leben
ist.«
Sie weinte
Tränen
des
Zorns.
Ihr
Gefühlsausbruch
mochte
theatralisch wirken, aber dahinter steckte eine echte Kraft.
    »Diese
Grausamkeit!«,
schrie
sie.
»Ihn
so
lange
wegzusperren,
von
allem
abgeschnitten! Da wäre es besser gewesen, ihn gleich zu töten. Ihm die Kehle durchzuschneiden und ihn ausbluten zu lassen. Diese Schurken! Diese -«
    Sie war mit der Hand am Stuhl hinabgefahren. Karl sah, was Jim nicht sehen konnte,
nämlich den Schimmer einer Stahlklinge. Als die Frau hochschnellte, sprang er auf
sie zu und rang mit ihr. Knurrend fiel sie hin, wand sich aber geschmeidig aus seinem
Griff. Karl rollte sich auf die Seite und warf den kleinen Tisch um, der zwischen sie
fiel. Jim trat ihr auf das Handgelenk, bückte sich und riss ihr das Messer aus der
Hand.
    »Schluss damit«, befahl er. »Karl, gib der Señora ein Glas Branntwein - ich glaube, da
steht eine Flasche auf der Anrichte. Nun hören Sie zu«, und damit bückte er sich,
packte sie grob bei den Haaren und zog ihren Kopf hoch, damit sie ihn anschaute.
»Ich bin kein Gentleman. Mir macht es überhaupt nichts aus, Sie zu schlagen. Wenn
ich richtig sehe, sind Sie nichts weiter als eine ganz gewöhnliche Kriminelle, und
wenn ich Sie jetzt umlegen würde, gäbe es auf der Welt nur eine Mörderin weniger.
Aber da gibt es noch diesen armen Teufel in der dunklen Höhle, und jetzt, da ich ihn
gesehen habe, bin ich ihm etwas schuldig. Also werden Sie uns helfen, haben Sie
mich verstanden?«
Er schüttelte sie grob. Sie spuckte aus. Er schüttelte sie noch gröber. Sie wand sich
und versuchte, ihn zu beißen. Er schlug sie so hart, dass ihr der Atem wegblieb. Sie
schaute ihn verstört an. Er ließ ihre Haare los und half ihr in den Lehnstuhl.
Karl brachte ihr den Branntwein und sie nahm das Glas zitternd mit beiden Händen.
»Trinken Sie«, befahl Jim.
     
Sie nahm einen Schluck. Er bückte sich und hob den Geldbeutel auf, der in den
kalten Kamin gefallen war. Der Beutel war leicht und leer.
    Sie wischte sich das Gesicht mit der flachen Hand ab: Das war kein affektiertes
Tupfen mit einem Seidentaschentuch, sondern eine ehrliche derbe Geste. Die Spur
seiner Hand auf ihrer Wange brannte rot, und mit den zerzausten Haaren und den
tränenverschmierten
Augen
sah
sie plötzlich
älter aus, aber
auch
weniger zurechtgemacht und damit zugänglicher. Jim setzte sich. »Sie müssen mir jetzt alles
erzählen. Fangen Sie mit Prinz Leopold an.« Sie holte tief Atem. »Er hat sich in Paris
in mich verliebt. Wir haben gleich geheiratet. Warum sollte ich keinen Prinzen
heiraten? Ich war es wert, Königin zu werden. Aber die Leute bei Hof wollten sich
nicht damit abfinden. Sie versuchten, die Heirat für nichtig zu erklären,

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