Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
ihre Krone über den ganzen
Platz aus, auch über den kleinen Brunnen, dessen Schale mit Laub verstopft war,
und über die Marmorfigur eines finster blickenden Mannes in einer Gelehrtenrobe,
der über einem offenen Buch brütete.
    Am Platz lag nur ein Wohnhaus, die übrigen Seiten bestanden aus der Mauer eines
Friedhofs,
der
Längsseite einer Kirche und
der Rückseite eines
Schreibwarengeschäfts. Jim tippte sich nachdenklich mit dem Daumennagel an die Zähne.
»Wir sollten nachschauen, ob es keinen Hinterausgang gibt«, sagte er. »Starrt nicht
die ganze Zeit auf das Haus, setzt euch auf den Brunnenrand und zeichnet die Figur
ab oder macht sonst etwas. Ich bin in fünf Minuten wieder da.«
    Und das war er tatsächlich, mit einem Strauß Rosen in der Hand. Karl hob die
Augenbrauen. »Sie ist eine Schauspielerin«, sagte Jim, »und ich kenne mich mit
Schauspielerinnen aus. Sie wollen beachtet werden. Schauspieler übrigens auch. Sie
brauchen das zum Leben, so wie unsereiner die Luft zum Atmen. Ihr werdet sehen,
mit den Rosen kommen wir ins Haus.« Er kritzelte ein paar Worte auf einen Zettel,
heftete ihn an die Rosen und zog an der Türglocke des schmalen dunklen Hauses.
Nach einer Minute öffnete eine schmuddelige Dienstmagd die Tür. Jim reichte ihr
den Rosenstrauß und sagte: »Für die spanische Dame, die hier wohnt. Bringen Sie
ihr die Rosen einfach so, ein Billett ist dabei.«
Die Dienstmagd machte den Mund auf, besann sich aber und zuckte nur mit den
Schultern.
     
»Wir warten«, sagte Jim.
    Sie nickte und schloss die Tür. Zehn Minuten vergingen, in denen Jim Steinchen in
den Brunnen warf, wieder herausfischte und auf dem Rand zu Pyramiden auftürmte.
Dann
übte er
mit
seinem
Spazierstock
Golfschläge auf
dem
Schließlich
ging
die
Tür
wieder auf. Die Dienstmagd bat sie
»Fräulein Gonzalez empfängt Sie jetzt.«
Kopfsteinpflaster.
hereinzukommen.
    »Nun also Gonzalez«, murmelte Jim mit einem Blick zu Karl. Die Freunde ließen den
anderen Studenten als Wache draußen und folgten der Dienstmagd ins dunkle, nach
Kohlsuppe riechende Treppenhaus. Im zweiten Stock blieben sie vor einer Tür
stehen. Jim hatte die Hand an der Pistole in seiner Hosentasche. Die Dienstmagd
klopfte, machte die Tür auf und meldete: »Ihre Gäste, Fräulein«, dann trat sie
beiseite und ließ die beiden jungen Männer eintreten. Carmen Ruiz stand neben
dem einzigen Lehnstuhl und hielt die Rosen im Arm.
    Selbst wenn Jim nicht gewusst hätte, dass sie eine Schauspielerin war, hätte er allein
wegen ihrer Körperhaltung, der Neigung ihres Kopfes und dem Feuer ihrer dunklen
Augen so etwas vermutet. Sie hatte sich das schwarze Haar nach hinten gekämmt
und zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt. Die Lidränder waren mit Kohle
geschwärzt, die Lippen rot geschminkt. Auf der Bühne hätte das einen dramatischen
Effekt
ergeben,
aber hier
in
diesem
engen
Zimmer und
im
grauen
Licht
des
Spätnachmittags, neben einem kalten Kamin und einem Tisch, auf dem sich eine
schmutzige Teetasse und
eine leere Geldbörse Gesellschaft
leisteten,
war
der
Eindruck schlicht trostlos. Sie trug ein zerknittertes, ausgefranstes Kleid und ihre
Schuhe waren staubig.
Sie zitterte. Einen Augenblick glaubte Jim, das käme von der Kälte.
     
»Wer sind Sie?«, fragte sie in einem Deutsch, das holpriger war als Jims. »Ich kann
mit Ihrem Namen nichts anfangen. Was wollen Sie?«
     
»Wir wollen Ihnen helfen, Prinz Leopold aus der Grotte zu befreien«, sagte Jim.
    Einen
Augenblick
erstarrte sie in
wortloser Verblüffung,
dann
warf
sie den
Blumenstrauß weg und stürzte sich wie eine Tigerin auf ihn. Ihre Zähne blitzten, ihre
Fingernägel waren auf seine Augen gerichtet; sie atmete Hass aus allen Poren und
dachte nur an Angriff. Wäre er ihr nicht ausgewichen, hätte sie ihn in Stücke gerissen und sein Blut getrunken, so schien es zumindest. Aber auch er hatte einen
natürlichen Kämpferinstinkt und sprang rechtzeitig beiseite, stellte ihr ein Bein und
schickte sie krachend zu Boden.
    Sie sprang auf und stand ihm schon wieder gegenüber, aber er war bereit: Ehe sie
erneut auf ihn losstürmen konnte, hatte er die Pistole in der Hand. Bei aller Raserei
entging ihr doch nicht, was das bedeutete. Sie duckte sich mit funkelnden Augen
und vor Erregung zitternd. Karl stand mit offenem Mund daneben und konnte nur
staunen.
    »Setzen Sie sich«, befahl ihr Jim. »Tun wir so, als wären wir zivilisierte Menschen. Ich
möchte mehr über Sie wissen, Señora Ruiz, oder Menendez,

Weitere Kostenlose Bücher