Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
»Aber
wer seinen Ehemann liebt, hat doch noch lange kein Recht, einen anderen zu
erschießen. Sie ist nicht richtig im Kopf, Be-cky. Du müsstest sie mal sehen, dann
würde dir
rasch
klar,
wie
merkwürdig
sie ist.
Da
sind
Einzelheiten,
die
nicht
zusammenpassen. Ihr Haar zum Beispiel. Sie muss Stunden damit zubringen, es sich
so straff nach hinten zu kämmen, dass die Haut an der Stirn spannt. Im Nacken ist es
so fest verknotet, dass es sich wie Holz anfühlt - das habe ich gespürt, als wir
miteinander kämpften.
Während
sie so
viel
Mühe auf
ihr
Haar
verwendet,
vernachlässigt sie ihre Schuhe völlig - sie sind zerschlissen, lehmverkrustet, die
Sohlen lose. Da wäre noch vieles, woran man sieht, dass sie aus der Bahn geraten
ist. Und erst ihre Augen! Ihr Blick hat etwas Stechendes. Aber ob sie nun wirklich
wahnsinnig
ist
oder
nicht,
sie ist
einfach
zu
gefährlich, als
dass
man
sie frei
herumlaufen lassen könnte. Und bedenke bitte, wenn sie wirklich bekäme, was sie
wollte, würde sie das glücklich machen? Könnte sie ihrem Mann zur Königskrone
verhelfen und neben ihm herrschen? Er ist doch ein Wrack. Er könnte weder die
Fahne stemmen noch wüsste er, wohin er sie tragen sollte. Und mit ausländischen
Ministern verhandeln, wie Adelaide es tut, das könnte er schon gar nicht. Wenn
Carmen Ruiz richtig im Kopf wäre, hätte sie keine Freude an einem solchen Leben.
Und wenn sie es nicht ist, dann versteht sie sowieso nichts davon. Das ist schon
tragisch - für sie, für ihn, für beide. Und wir sind die Werkzeuge in dieser Tragödie.
Aber wir müssen es tun. Wir können nicht alles aufs Spiel setzen, was Adelaide
erreicht hat, was du erreicht hast, die ganze Zukunft des Landes, nur damit diese
Frau vorübergehend glücklich ist - und dieses Glück wäre doch nur Illusion. Ja, wir
haben ihn als Köder verwendet, um sie zu fangen, und nun benutzen wir sie, um ihn
zu befreien, und dann verraten wir sie. Aber ich gehe vor jedem Gericht in den
Zeugenstand und schwöre, dass sie nicht zurechnungsfähig ist. Man wird sie nicht
hängen, wenn ich als Zeuge auftreten darf.«
Becky spürte einen Kloß im Hals. »Und der Graf?«, fragte sie. »Weiß er Bescheid?«
Jim schüttelte den Kopf.
    »Er sah heute sehr blass aus«, fuhr Becky fort. »Richtig krank. Auch Adelaide ist es
aufgefallen. Ich glaube, er fühlt sich schuldig wegen irgendetwas.« Jim biss an seiner
Lippe herum. »Der alte Narr. Und ich dachte, wir könnten ihm vertrauen. Du, Becky,
ich ... An dem Morgen in St. John's Wood, als die Bombe explodierte ... Ich war froh,
dass du da warst. Du hast das alles ganz toll gemacht. Aber jetzt wünschte ich mir,
du wärest tausend Meilen fort von hier.«
»Warum?«
    »Weil es gefährlich wird. Ich denke an deine Mutter. Wenn dir etwas zustieße,
könnte ich mir das nie verzeihen. Wie geht es ihr übrigens? Schreibt sie dir?«
»Selbstverständlich. Und ich schreibe ihr zweimal wöchentlich, sogar lange Briefe.
Würdest du das etwa nicht?«
    »Meine alte Mutter hätte es sowieso nicht lesen können«, sagte er. »Sie starb, als
ich zehn war. An Schwindsucht. Sie war eine Wäscherin oben in Clerken-well. Mein
Vater hat mir das Lesen beigebracht ... Hauptsächlich mit Dickens. Er mochte Das
ganze Jahr hindurch besonders gern, las jede Woche darin. Ich erinnere mich, dass
er mich einmal zu einer Lesung mitgenommen hat, bei der der Dichter selbst die
Szene las, wo Sikes die arme Nancy umbringt. Uns lief es damals eiskalt den Rücken
hinunter ... Wie komme ich darauf? Ach ja, deine Mutter. Deswegen wünschte ich
mir, du wärest tausend Meilen fort und in Sicherheit. Hör mal, Becky, würdest du
heute Nacht in Adelaides Zimmer schlafen?«
»Ja ... gut, das kann ich machen.« »Nur für den Fall.«
    Er stand auf, ging zum Fenster und schob den Vorhang einen Spalt weit beiseite, um
hinauszuschauen. »Becky, wie sieht das Ende von alledem aus?«, fragte er sie, ihr
den Rücken kehrend. »Was machst du, wenn der Vertrag unterschrieben ist?«
    »Ich? Ich möchte ... Ich möchte auf die Universität gehen und richtig Sprachen
studieren. Aber jetzt möchte ich erst noch dabei sein, wenn der Vertrag morgen
Vormittag unterzeichnet wird. Das ist das Aufregendste, was ich bisher erlebt habe,
Jim, du kannst dir gar nicht vorstellen, was das bedeutet. Es geht um mein Land, und
ich bin mittendrin, am Puls der Geschichte - etwas Schöneres hätte es nicht geben
können!« Er schüttelte den Kopf. Er schaute immer noch nach draußen.
    »Und was

Weitere Kostenlose Bücher