Das Banner des Roten Adlers
lernen und zu erfahren, wie sie das geschafft hatte.
Orchard House in Twickenham
war ein Anwesen am
Ende einer ruhigen, von
Bäumen gesäumten Straße unweit der Themse: Ein Kiesweg führte zu einer großen
Stuckvilla aus den ersten Jahren des Jahrhunderts mit einem schmiedeeisernen
Balkon und einer verglasten Veranda zur Gartenseite. Zur Linken befand sich noch
ein Stallgebäude. Das war kein Ort, an dem man ein Detektivbüro vermutet hätte.
»Wir sind ein ungewöhnliches Team«, sagte Jim Taylor. »Ich habe zwar ein Büro in
der Edgware Road, aber meine Visitenkarten mit der neuen Adresse sind noch nicht
gedruckt. Das hier ist eher mein Zuhause als mein Arbeitsplatz.«
Er führte sie in ein Zimmer, durch dessen offene Fenstertür die Sonne hereinschien,
eine
originelle
Mischung
aus
Atelier,
Werkstatt
und
Wohnzimmer
mit
einem
Glasschrank, in dem blaues Porzellan stand, einer Bücherwand, einem Klavier und
einer Staffelei mit etwas darauf, was sogleich Beckys Aufmerksamkeit erregte: eine
Ölskizze,
die Ansicht
einer
Vorstadtstraße im
Morgenlicht,
eine
mit
raschen
Pinselstrichen
eingefangene,
wundervoll
leichte
Frühlingsimpression.
»Ein
Pissarro!«, entfuhr es ihr. »Oh! Entschuldigen Sie bitte ...«
Auf dem Sofa neben der Fenstertür saß eine junge Frau mit blondem Haar und
dunkelbraunen Augen. Sie hatte eine Handarbeit auf dem Schoß und biss gerade
einen dünnen marineblauen Wollfaden durch.
»Hallo Jim«, sagte sie. »Wen bringst du uns denn hier mit?«
»Das
ist
Miss
Winter.
Sie hat
mir
Glück
gebracht.
Miss
Winter,
das
ist
Mrs
Goldberg.«
Mrs Goldberg erhob sich, um ihr die Hand zu reichen. Sie war schlank, hübsch und
jünger, als Becky erwartet hatte. Aus ihrem Gesicht sprach die gleiche freundliche
Direktheit wie aus dem Jim Taylors und fast hätte man die beiden für Geschwister
halten können.
»Stimmt, das ist ein Pissarro«, bestätigte Mrs Goldberg. »Ich habe ihn vorige Woche
erworben. Habe ich einen guten Kauf gemacht?«
»Es ist wunderschön. Monsieur Pissarro wohnt bei Freunden meiner Mutter, wenn
er nach London kommt. Wir kennen ihn ein bisschen und deshalb habe ich sofort
seinen Stil erkannt ...«
Mrs Goldberg hielt immer noch ihre Handarbeit. Becky schaute genauer hin. Die
Frau, von der ihr Jim Taylor auf der Zugfahrt berichtet hatte, die kühne Abenteurerin, die mit Schusswaffen hantierte, Sozialisten heiratete und ein uneheliches Kind
besaß, diese Frau hatte sie sich eigentlich nicht als strickendes Heimchen vorgestellt.
Mrs Goldberg bemerkte Beckys Blick, lächelte und warf die Handarbeit Jim Taylor in
die
Arme.
»Ich
glaub's
nicht«,
sagte
er
und
hielt
sich
das
Gestrickte,
einen
Seemannspullover, vor die Brust. »Der passt mir ja sogar.«
Mrs Goldberg lachte. »Jim hat fünf Pfund mit mir gewettet, dass ich das nicht
könnte«, erläuterte sie. »Ich habe fast ein Jahr gebraucht, aber ich wollte mich nicht
geschlagen geben. Also los«, sagte sie und streckte die Hand aus, »zahle, was du
schuldig bist.« Er zählte ihr fünf Sovereigns auf die Hand. »Wetten Sie nie mit
Frauen«, sagte er zu Becky. »Du, Sally, wir haben ein Riesenglück: Es ist wirklich
Adelaide. Sie ist mit einem Prinzen verheiratet. Miss Winter ist ihre Sprachlehrerin.
Ach
ja,
jemand
hat
heute Morgen
versucht,
ihn
in
die Luft
zu
sprengen.«
»Hoffentlich ohne Erfolg?«
»In seiner Kutsche war eine Bombe versteckt«, sagte Becky. »Eine Höllenmaschine,
meint Mr Taylor.«
»Eine Bombe?«, fragte Mrs Goldberg. »Ich habe nie eine Bombe explodieren hören.
Was ist das für ein Geräusch?«
»Das kann ich nicht genau sagen, ich erinnere mich nicht daran. Ein Knall, das ist
klar. Aber ob es ein trockener Knall war-oder eher ein dumpfes oder lang gezogenes
Krachen, das könnte ich nicht beschwören. Ich war oben im Wohnzimmer mit Miss
Bevan, als es passierte. Die Fensterscheibe ging zu Bruch und eine Staubwolke stieg
auf ...« »Miss Bevan? Nennt sich Adelaide jetzt so?« »Ja. Aber ...« Becky zögerte
einen Augenblick. Sollte sie Adelaides Geheimnisse diesen Leuten verraten? Doch
selten hatte sie sich bei Menschen gleich so wohl gefühlt, selten hatte sie jemandem
so instinktiv vertraut.
Mrs Goldberg bemerkte Beckys Zaudern und nahm ein Stereoskop von der Anrichte,
schob ein Diapositiv in die Vorrichtung und reichte es Becky. Auf dem Bild war ein
kleines Mädchen mit großen dunklen Augen zu sehen. Es war wie eine Küchenmagd
angezogen. Auf dem nächsten Bild war es als Blumenmädchen kostümiert, dann
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