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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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als
Tochter Israels, dann als Feenkind.
War das Miss Bevan? Schwer zu sagen. Dann gab ihr Mrs Goldberg ein weiteres
Diapositiv. »Ja! Das ist sie!«
    Es war das gleiche, das sie am Morgen in Miss Bevans Wohnung gesehen hatte: das
kleine Mädchen auf dem Schoß des Mannes, sentimentale Lieder singend. Sie sagte
es Mrs Goldberg, worauf diese vor Freude in die Hände klatschte.
»Ich kann's gar nicht glauben!«, sagte sie. »Adelaide ... Wir dachten schon, sie sei tot
oder für immer verschollen ...«
     
»Warum haben Sie denn so viele Aufnahmen gemacht?«
    »Das war, als wir
gerade erst mit
dem
Fotoatelier begonnen hatten. Anfangs
verkauften wir die Bilder einzeln, dann in Serien - Szenen nach Dickens, nach
Shakespeare, Schlösser und Burgen Großbritanniens, Ansichten des alten London
und so weiter. Aber damals war Adelaide schon verschwunden, sie ist nur noch auf
den ersten Bildern zu sehen. Und sie hat diese hier aufgehoben ...«
    Becky erzählte, wie Adelaide reagiert hatte, als sie die Namen Taylor, Garland und
Lockhart hörte. »Dann besteht kein Zweifel mehr«, stellte Mrs Goldberg fest. »Und
jetzt ist sie mit einem Prinzen von Ras-kawien verheiratet ... Wo liegt Raskawien
eigentlich? Dan müsste es wissen. Er ist da bestimmt schon mal verhaftet worden.
Das ist mein Mann«, fügte sie hinzu.
»Es ist kein Krimineller, er ist ein politischer Aktivist.«
     
»Ich weiß, wo Raskawien liegt«, sagte Becky. »Ich bin dort geboren und immer noch
Staatsbürgerin von Raskawien.«
    Sie freute sich über die Verblüffung, die sie damit verursachte. Mrs Goldberg und Mr
Taylor schauten sich erst sprachlos an, dann verzog er das Gesicht zu einem breiten
Grinsen und sie lächelte sanft. »Damit ist die Sache klar«, stellte Mrs Goldberg fest.
»Sie müssen unbedingt zum Mittagessen bleiben und uns alles erzählen. Das dürfen
wir uns nicht entgehen lassen, nicht wahr, Jim?«
    Zu Beckys Erleichterung wurden für das Mittagessen keine Umstände gemacht.
Schon nach einer halben Stunde hatte sie das Gefühl, diese originellen, klugen,
immer zu Scherzen aufgelegten Menschen ihr ganzes Leben lang zu kennen. So
erzählte sie ihnen alles, was sie über das kleine Königreich und ihren Geburtsort
wusste.
    »Es ist nicht viel größer als die Grafschaft Berkshire. Es liegt zwischen Preußen und
Böhmen, also eingekeilt zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn. Früher gab
es dutzende solcher Kleinstaaten, aber die meisten sind nach und nach geschluckt
worden. Raskawien ist eine Ausnahme. Seine Geschichte geht bis auf das Jahr 1253
zurück ...«
    Dann erzählte sie, so gut sie sich erinnern konnte, die Geschichte vom Roten Adler.
Einst war König Ottokar II. von Böhmen mit seinen Truppen in Raskawien eingefallen, doch ein Edelmann namens Walter von Esch-ten verschanzte sich mit
hundert
Rittern
auf
einem
großen
Felsen
an
einer
Biegung
der Eschten.
Sie
kämpften unter dem Banner des Roten Adlers und Ottokars Soldaten vermochten
nicht sie zu vertreiben. Walter und seine Getreuen kannten die Berge wie sonst
niemand. Des Nachts schlichen sie sich ohne
Rüstungen, um sich nicht durch
Geräusche zu verraten, aus ihrer Verschanzung und zerstörten sämtliche Vorräte der
böhmischen Truppen. Ottokars wütende, hungrige Soldaten liefen in klirrenden
Rüstungen
ratlos
umher,
bis
Walter ihnen
vor
seiner
Burg
bei
Wendelstein
entgegentrat. In dieser Schlacht wurden die meisten Eindringlinge getötet. Danach
hielt sich Ottokar von Raskawien fern und mit ihm alle anderen; seither flatterte das
Banner
des
Roten
Adlers, die Adlerfahne,
über
dem
Felsen
von
Eschten-burg.
Solange die Adlerfahne wehe, werde Raskawien frei sein, hatte Walter von Eschten
verkündet, und so war es tatsächlich. Die Fahne wurde nur aus zwei Gründen
eingeholt: wenn sie geflickt werden musste - von dem ursprünglichen Stoff war kein
einziger Faden mehr erhalten, aber es war noch immer dieselbe Fahne - oder aus
Anlass einer Krönung. Die Fahne wurde dann zum Dom gebracht, gesegnet und
anschließend vom neuen König über die alte Brücke zurück auf den Felsen von
Eschtenburg getragen, um dort wieder frei im Wind zu flattern. Deshalb nannte man
den König von Raskawien auch den Adlerträger. Für die Raskawier war die Adlerfahne mehr als ein Banner, sie verkörperte ihr ganzes Wesen. Wenn die Fahne
jemals fallen oder in den Schmutz gezogen würde ... allein der Gedanke war ihnen
unerträglich.
    Das Land war nicht gerade reich. Früher hatte es im Karlsteingebirge

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