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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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zurecht, wenn er etwas ausließ oder einen Fehler machte. Eigentümlich verzweifelt sah der Kejereh aus mit seinen bunten Lumpen, als überforderten ihn die vielen Wünsche. Erst jetzt dachte Gopal kurz daran, daß es nicht ungefährlich sei, sich auf der weiten Fläche vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang zu bewegen. Er hatte nur Pfeil und Bogen dabei und einen Dolch, aber einen Bären hätte er damit nicht erlegen können, und Bären waren nicht selten in diesem Gelände.
    Mit rauhem Schrei flog ein großer, üppig gefiederter Vogel niedrig über den Boden hinweg. Gopal hob ohne nachzudenken seinen Bogen und schoß einen Pfeil auf den Pfauen ab. Zu seiner Verblüffung traf er ihn. Es war der erste Pfau, den er im Flug getroffen hatte, aber der Pfau schien nur verwundet und flog weiter auf ein Dickicht zu, das hinter den letzten großen Felsgruppen begann. Hier war der Wald, das königliche Jagdrevier, die Heimat der Bären und Tiger. Ohne Besinnung folgte Gopal seiner Beute. Die Zweige schlugen hinter ihm zusammen. Ihm war, als stürze er sich in ein Meer.
    Es ging bergauf im Gestrüpp, der Wald war ein Bergwald. Der Bogen war sperrig und blieb leicht an den Bäumen hängen. Als ein Ast den Prinzen am Weitergehen hinderte, ließ er seine Waffe von der Schulter gleiten. Ein Weilchen später verlor er auch den Köcher aus Goldleder mit noch sechs scharf geschliffenen, buntgefiederten Pfeilen. Die Dornen verfingen sich in seinem seidenen Hemd, das kümmerte ihn nicht, den kleinen Schrei des Stoffes beim Zerreißen hörte er mit Lust.
    Auf einer Lichtung war der Pfau niedergegangen. Seine Brust war blutbefleckt, er wälzte sich im Todeskampf, seine Krallen fuhren in der Luft herum, als versuche er, auf die Beine zu kommen. Die Dornen hatten die Haut des Prinzen geritzt, auf seinen weißen Ärmeln, die große Risse hatten, zeigten sich Blutstropfen, er stand dem Pfau gleichfalls zerfetzt und – wenigstens andeutungsweise – blutig gegenüber, aber bei ihm war dieser Zustand ein Zeichen der Kraft. Je weiter er sich von dem königlichen Lager entfernte, desto lebendiger war ihm zumute. Der zappelnde und sich windende Pfau sah ihn mit großem Auge an. Verstand er, daß schwitzend und hechelnd sein Mörder vor ihm stand? Was war es nur gewesen, warum hatte er nach dem Pfau geschossen, was hatte er mit dem Vogel gewollt? Gopal drehte sich um, aber er ging nicht zurück. Er ließ den sterbenden Pfau dort liegen, mochte ihn ein Panther fressen, so daß nur ein wilder Berg Federn übrigblieb, als sei an dieser Stelle mitten im Wald ein Pfauenfederkissen geplatzt.
    Der Aufstieg wurde einfacher. Neben einem ausgetrockneten Bachbett aus rundgeschliffenen schwarzen Steinen führte eine Art kleiner Pfad, manche Steine auf dem Weg wirkten geradezu, als habe sie jemand dort hingelegt, um dem Tritt Halt zu bieten. Wie auf einer Wendeltreppe ging der Pfad aufsteigend um den Stamm eines riesigen Baumes herum. Als er oben angelangt war, streiften die untersten Äste der weit ausgreifenden Blätterkronen Prinz Gopals rosafarbenen Turban, eigentlich mehr eine Binde aus einem Seidentuch, das neben seinem Bett gelegen hatte, denn der Turbanwickler sollte nicht geweckt werden. Und vor ihm erhob sich hellgrau und übergroß, wie es in diesem überraschenden Augenblick schien, der knochige Hintern einer Kuh, die den Weg versperrte.
    Wie war eine Kuh hierhergekommen? Gopal schlug ihr mit der flachen Hand auf die Kruppe, aber sie bewegte nur schläfrig ihren Schwanz, wie ein in der Hitze dösender Hofbeamter, der gelegentlich seinen Fliegenwedel schwenkt. Gopal mußte sich an der Kuh vorbeidrücken, nicht einen Schritt wollte sie tun, sie war hierhergekommen, weil sie gerade diesen schattigen Platz im weiten leeren Revier gesucht hatte, ihren Lebensplatz neben Fels und Baum. Hier würde sie lange stehen, den ganzen Tag bis zum Abend, wenn der Himmel sich rötete und »wenn die Kühe heimkehren«, wie Gopals Amme die Abendstunde genannt hatte. »Abendstunde«, sang sie, »du führst zusammen, was der helle Tag getrennt hat: Die Ziegen kommen heim, die Kühe kommen heim, nur die Tochter muß die Mutter verlassen«, das spielte auf die abendlichen Hochzeitsfeiern an, wenn die Mütter sich von ihrer bräutlichen Tochter unter Tränen verabschiedeten, nachdem sie die Hochzeit jahrelang mit List und Zähigkeit betrieben hatten.
    Prinz Gopal hatte diesen Augenblick bisher mit viel List hinausschieben können, und seit der Krankheit des Vaters

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