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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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er der Reichsapfel, und warf ihn dann mit einer unerwartet scharfen und starken Bewegung dem kahlen Asketen an den Schädel, daß die Frucht platzte und dicke Safttropfen über die Stirn des Heiligen liefen.
    Das war aber nicht der Grund, weshalb es hieß, die Heiligen hätten den Wald verlassen. Woher wollte man das auch wissen? Niemand betrat ja den Wald. Prinz Gopal glaubte, dies Gerücht sei die verschlüsselte Form der Ahnung, die immer mehr Untertanen von Sanchor hegten, was die geistige Verfassung des Herrschers anging: nicht daß die Heiligen den Wald, sondern daß der Verstand den Kopf des Monarchen verlassen habe.
    Es war etwas Unreinliches, Unappetitliches an der engen, verlassenen Höhle, als Prinz Gopal den Kopf hereinsteckte, um nachzusehen, ob sie wirklich leer sei oder ob nicht doch, unbeweglich und schon zum Gegenstand geworden, ein Heiliger im Dunkeln hockte. Wie ein verschwitztes Hemd war diese Höhle, ein wenig feucht und vom Kot kleiner Tiere gesprenkelt, der einen üblen Geruch ausströmte. Die Verkommenheit der Höhle war nicht naturhaft. Die verlassene Lagerstatt von irgendwelchem fahrenden Volk hätte so aussehen können, nahe der Abdeckerei am Rand der Stadt. Und dabei war Gopal nun schon tief in den Dschungel eingedrungen.
    Trocken war dieser Dschungel, verfilzt und ausgetrocknet wie ein Eichhörnchennest. Jeder Schritt erzeugte das Krachen und Knacken zerbrechender Äste. Die leichten Peitschenhiebe in sein Gesicht empfand Gopal im Weiterlaufen schon nicht mehr. Wie weit er so ging, hätte er später nicht mehr sagen können, denn der Tag war nach schöner aprikosenfarbener Morgenröte dunstbedeckt. Ein weißgraues gleichmäßiges Licht lag über dem Land, es war ein Tag ohne Tageszeiten. Dem entsprach ein Weiterlaufen ohne Ziel. Eine Stimme in seinem Innern sagte ihm, aber ohne alle Besorgtheit oder warnende Untertöne, daß er den Weg zurück nun nicht mehr finden werde. Keine Stimme war zu der Frage zu hören, was dies Vorwärtsstreben eigentlich sollte. War es eine Flucht, ein Davonlaufen? So kam es Gopal nicht vor, und zugleich stand fest, daß er sich kein Innehalten gestatten würde.
    Angst konnte einem der Wald mit seinen reißenden Tieren schon machen, aber zugleich gab es die Erfahrung, daß er vielfältig belebt war von menschlichen Wesen, die sich mit und ohne Erlaubnis hier aufhielten. Als Gopal die großen Blätter eines Busches zur Seite schob, stand er unversehens in einem Kreis von Menschen, die auf dem Boden hockten und ihn mit weit aufgerissenen Augen ansahen. Ein Mann mit struppigem Haar, schmutzigen Lumpen und mageren, knochigen Gliedern, eine verhungerte Frau mit dem Schleier über dem Scheitel und dunklen Kinderarmen, vier Kinder, drei Knaben halbnackt und ein Mädchen, das einen großen Drahtring durch den linken Naselflügel trug, waren dabei, dünne Bäume, die der Vater geschlagen hatte, mit gesammeltem Gezweig zu großen Bündeln zu schnüren, die sie dann auf dem Kopf irgendwohin tragen würden, zu einem Kohlenmeiler, der hier verborgen sein mußte. Der älteste Mann war von schwarzem Staub wie gepudert.
    Die Köhlerfamilie hatte sich, wie sie da hockte, eines schweren Verbrechens schuldig gemacht. Waldfrevel im königlichen Jagdrevier konnte mit dem Tod bestraft werden, auf jeden Fall aber mit Prügeln, die kaum weniger Todesstrafe waren. Die Familie kauerte in der den Armen eigentümlichen Weise, die Knie in der Höhe des Kinns, das kleine Hinterteil hing knapp über dem Boden. Gopal konnte keine fünf Minuten derart kauern. Man mußte von Jugend auf daran gewöhnt sein, und jung waren die Leute ohnehin, der von Falten zerfurchte Vater war höchstens dreißig, ein Altersgenosse von Gopal, der vom Schweiß glänzte und blühte, als seien seine glatten, vollen Wangen mit Butterfett eingerieben. Seine Kleider waren zerrissen, aber die Weiße der Seide und das Rosa des Kopftuchs stachen gegen die Schwarzgepuderten immer noch scharf ab.
    Niemand sagte ein Wort. Die Familie bewegte sich nicht. Gopals plötzlicher Auftritt hatte sie erstarren lassen. Erkannten sie ihn? Sie konnten ihn nur von fern einmal in der Elephantensänfte gesehen haben, wenn er ganz in Goldstoff gekleidet war. Unmöglich, dann irgendwen wiederzuerkennen. Aber daß er zu der Sphäre gehörte, die drohen und strafen konnte, zu den unbegreiflichen höheren Wesen, die über das kümmerliche Menschengewimmel gesetzt waren, ohne Teil an ihm zu haben, das war ihnen klar. Was würde geschehen?

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