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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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lebendigen Menschen ein Bild seiner selbst geworden war, zu dem man nicht mehr in Verbindung treten konnte. Wenn der Vater mit großem Turban und Brokatüberrock mit Juwelen beladen in der Sänfte saß, war er wie eine Götterstatue, die in Prozessionen herumgeführt und angerufen und angefleht wird, ohne daß jemand weiß, was sie von diesen Bitten hört. Dennoch war er unbestreitbar der König, man konnte sogar sagen, daß das Königsein das einzige war, was nach dem Wegfall der Erinnerung, der Sprache, des Bewußtseins, von ihm übriggeblieben war. Gopal war nicht mehr jung, aber er zählte nicht zu den ehrgeizig auf den Thron wartenden Prinzen. Er konnte sich einen anderen König als seinen Vater nicht vorstellen. Er wußte, daß er eines Tages an die Stelle des Vaters treten mußte, aber im tiefsten glaubte er nicht daran. Er entdeckte nichts Königliches an sich. Das begann mit der Größe. Der Vater überragte seinen Hof und erst recht sein kleinwüchsiges Volk um zwei Köpfe. Jede seiner Handbewegungen war voll Würde und Schönheit. Unnachahmlich war, wie er beim Durbar den Rat seiner Vasallen eingeholt hatte, wie er jeden zum Sprechen aufforderte und jedem schweigend und ohne zu unterbrechen lauschte, wie er jeden Einwand und jedes Bedenken erwog. In seiner Brust pendelten die goldenen Schalen einer empfindlichen Waage, und jedes Argument wurde hier objektiv geprüft. Dann, aus einem Meer von Schweigen heraus, stieg der Entschluß empor, und wehe dem, der daran noch rührte. Königlicher Zorn, so etwas zu erzeugen, daran wagte Prinz Gopal nicht zu denken. Er kannte an sich selber Wutanfälle, Verzweiflung, Entrüstung, aber alles in unköniglichem Format. Und er fühlte sich außerstande, Pläne für die Zukunft zu fassen und seine Nachbarn, die Könige der umliegenden Reiche nach ihren Interessen einzuschätzen. Gewiß, er würde Purhoti an seiner Seite haben, aber er wußte aus vielen königlichen Durbars, daß es die eine Sache war zu raten und eine andere zu entscheiden. Selbst jetzt, im geistigen Zustand eines Säuglings, so empfand er, war der Vater mehr König, als er selbst unter Aufbietung seiner gesamten Verstandeskraft es je sein könnte. Und so war auch sein Weglaufen, sein Aus-dem-Traum-Herauslaufen unreif und planlos.
    Virah hatte er zugeflüstert, daß er allein auf die Jagd gehe, aber er ließ sich kein Pferd geben und verließ den Umkreis des Lagers in den engen, faltigen weißen Seidenhosen und dem flatternden weißen Hemd, in dem er geschlafen hatte. Und er nahm nicht einmal eine Flasche Wasser mit.
    Ein riesenhafter grauer Felsen, glatt wie ein Totenschädel, in dessen Schatten das Lager angelegt war, entzog die Zelte schon nach wenigen Schritten seinen Blicken. Er schaute in ein weites, welliges Tal, dessen braun-vertrocknetes Erdreich mit magerem Gras an vielen Stellen von schwarzem Stein durchstoßen wurde. Einzelne große Bäume mit weit ausgreifenden Ästen behaupteten sich in der Trockenheit, und jeder von ihnen hatte sich einen manchmal ebenso hohen mächtigen Felsen als Gefährten erwählt, ja, es war, als seien die großen Bäume und die großen Felsen wie Mann und Frau füreinander erschaffen, es waren Paare, die zueinandergefunden hatten, der glatte, gewölbte Stein und der ihn mit einem Schlangengewirr dicker Wurzeln umarmende große Baum. Jedes dieser Paare bildete einen Ort, der bedeutungsvoll war, jede dieser Baum- und Felsenverbindungen war ein Ziel für eine Wanderung oder Pilgerschaft, und zu Füßen der Baumstämme und der Steine fanden sich häufig rohe kleine Altäre mit einem farbig beschmierten und von welken Blumenketten geehrten Idol, meist nicht mehr als ein eigentümlich geformter, aber von keiner Menschenhand zurechtgemeißelter Stein. Das Tal war ein Hain. Die trockene Erde sah aus der Ferne wie ein von Gärtnern angelegtes Parkland aus, in dem sich die heiligen Stätten erhoben, aber niemand hatte jemals daran gerührt, es war ein Werk der Natur. Gopal näherte sich einem mit blattlosen Armen in den Himmel greifenden Dornenbaum, an dem bunte Fetzen flatterten: ein Kejereh, ein Wunschbaum, in dessen Zweigen die Bauern ein Stück Stoff verknoteten, wenn der Baum ihren Bitten entsprochen hatte. Für Könige war dies kein möglicher Verkehr mit den wohlwollenden Geistern, für sie vollbrachten die Priester Zeremonien von einer Kompliziertheit, daß dicke Bücher zu ihrer Beschreibung kaum ausreichten, aber der Vater kannte viele davon und wies selbst Purhoti

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