Das Beben
ruhten ohnehin alle solche Bestrebungen. Es zeigte sich, daß ein guter Regent am Ende des Lebens seine Ernte einfahren konnte, ohne freilich noch Genuß daran zu haben. Der Staat war so vortrefflich eingerichtet, daß er seit geraumer Zeit von alleine lief, ja es bestand die Gefahr, daß die ersten Taten eines neuen Königs mit dem erfolgreichen Nichts-mehr-Tun des alten Königs verglichen würden und dabei schlecht wegkämen. Der neue König konnte im Grunde nur Fehler machen. Er war dazu verurteilt, als schwacher Keim des gefällten Riesen verachtet und verurteilt zu werden. Warum konnten nicht auch die Königreiche leben wie diese Kuh? Warum waren sie, nachdem sie eine glückliche Daseinsform gefunden hatten, zum Wechsel gezwungen? Die Kuh wandte ihm den großen Kopf zu. Sie sah mit mildem Antilopenauge, wie er sich an ihr vorbei durchs Gezweig drängte, als begreife sie nicht, daß sie das Hindernis auf seinem Weg war. Ihre Hörner waren bemalt mit Pünktchen, Sternchen und Zackenbändern, die das Kuhhorn wie einen Turm in Stockwerke gliederten. So glich sie aufs Haar Prinz Gopals eigener Kuh, die mit der Kuh des Königs auch in das Jagdlager und überhaupt überall hingeführt wurde, wo die königlichen Herrschaften sich befanden, damit sich Milch und Butterfett für die königlichen Speisen nicht mit den Zutaten für den Hof mischten. Gopal war, als treffe er hier im tiefen Wald seine ihm zugeordnete Kuh, mit der ihn ein gleichsam verwandtschaftliches Band verknüpfte. Sie fragte ihn nicht nach seinen königlichen Eigenschaften, seinen Befähigungen und Leistungen, sondern war voll Gleichmut für ihn da, als gebe es keine andere Pflicht auf der Welt. Sie wartete auf ihn, wie Sanchor wartete. Aber Sanchor war keine Kuh. Es lag im Spannungsfeld großer Königreiche. Wer sich darin nicht bewegen konnte, mochte eines Tages ohne Thron und Reich aufwachen. Die Kuh blieb wie angewurzelt stehen, während er weiterging. Sie schaute ihm hinterher, sie nahm teil an ihm, aber sie war nicht bereit, für seine Gesellschaft ihren Standort aufzugeben.
Der Blick weitete sich. Das Unterholz wurde krüppliger, höhere Bäume standen nun in lichtem Abstand. Gopal trat in eine grüne Halle. Fern war eine Lichtung zu ahnen. Zwischen den Bäumen erhob sich ein Felsen mit blasigen Höhlungen, eine steinerne Ohrmuschel. Die Höhlenöffnung war unten zugemauert. Eine kleine Holztür hing schief in den Angeln. Der Felsen war mit weißen Strichen gleichsam geschminkt, wie das Gesicht eines Schamanen. Gopal wußte, daß überall im wilden Wald Asketen wohnten, heilige Männer, die es in der Einsamkeit unter den wilden Tieren aushielten und nackt oder nur mit einer orange gefärbten Dhoti-Hose bekleidet ein Leben aus Gebet und Opfer führten. Nur selten kamen solche Asketen in die Hauptstadt, vor allem zu den großen Festen im Tempel, sammelten Almosen und sprachen mit dem König. Seit jeher gab der gegenwärtig glücklich herrschende König viel auf das Urteil der Einsiedler. Es war für Gopal als Kind ein befremdender Anblick gewesen, den juwelengeschmückten König in seiner breiten Riesengestalt in stillem Tête-à-tête mit einem bis auf die Knochen abgemagerten, von weiß-bläulicher Asche beschmierten Nackten zu beobachten. Purhoti saß dann mit nichtssagender Miene an der Schwelle des Kabinetts und ging angelegentlich Listen durch, als wolle er zeigen, daß der König auch Diener besitze, die für ihn arbeiteten. Aber gegen einen Asketen hatte er keine Chance, ein Glück nur, daß diese Männer sich niemals auf Befehl zu einem Gespräch mit dem König herbeiließen, wenn er sich nicht gar zu ihnen in ihre Höhlen bemühte.
Es war nicht lange her, daß der letzte Heilige beim König gewesen war. Der König lehnte auf seinem Diwan, so schön wie eh und je. An seinem Turban leuchteten drei große Saphire, seine grauen Augen blickten unergründlich. Der Asket saß halbnackt zu seinen Füßen, ein kahlgeschorener Mann mit brennenden Augen. So saßen sie sich gegenüber, in tiefem Schweigen. Der Asket wartete nicht, daß der König das Schweigen brach. Er mochte schweigen so lang er wollte, tage- und nächtelang, das war für den Heiligen ohnehin die natürliche Daseinsform. Der König blickte auf einen Teller mit reifen Pfirsichen. Er faßte einen Entschluß. Mit den biegsamen Fingern seiner auffallend blassen Hand betastete er die pelzigen Kugeln und wählte einen besonders weichen, überreifen Pfirsich, wog ihn in der Hand, als sei
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