Das Beben
fingerlangen Zehen gaben ihm etwas Kindliches. Ich wußte, wie sehr er die aufpulvernde Wirkung der Überanstrengung schätzte, welches Wohlgefühl sie in seinem Körper erzeugte. Als er mich und Manon bemerkte, strahlte sein Gesicht sonnenhaft auf, wie ich das zwar kannte, aber selten so naturereignishaft bewundern durfte. Ich stellte Manon vor, aber er würdigte sie, die hochaufgerichtet in schöner Haltung vor ihm stand, keines Blickes. Wir tauschten ein paar Worte. Er berichtete von dem Linsenbrei und schien stolz, so wenig gegessen zu haben. Dann bewegte der Zug sich auf das düstere Haus zu, nicht ohne daß der König mich noch einmal mit seinem schmelzendsten Gruß ausgezeichnet hätte. Mir kam der Verdacht, daß er mich derart liebenswürdig bedachte, um sichtbar zu machen, daß er Manon nicht grüßte.
Sie stand vollkommen ruhig da, ihr schönes Gesicht war entspannt und zeigte sich in seiner ganzen Wohlproportioniertheit, weder »durch Furcht noch durch Hoffnung« verzerrt.
»Wer war das?« fragte sie, als der Zug in den Schatten des Hauses verschwunden war.
»Der König.«
Ich sah, daß sie einatmete, geräuschlos, aber so, daß ihre Brust sich hob. Sie blieb heiter, sagte aber nicht mehr viel. Die Nacht verbrachte sie allein in ihrem rotseidenen Bett, denn sie war erschöpft, und das war nach der langen Reise und den Ereignissen des Tages auch allzu verständlich.
2.
Wie ich Manon Purhotis Geschichte von der Krönung des Königs erzählte
Die Nacht war unruhig. Prinz Gopal kam es, als er die Augen aufschlug, vor, als sei er stundenlang um sein Leben gelaufen. Keine Erinnerung mehr an die Gegend, durch die er gehetzt war, nur an die eigene Überanstrengung, das laute Keuchen, das er zu unterdrücken versuchte, die Schwere der Füße, die nur mit Aufwendung des ganzen Willens gehorchten und zäh am Boden hafteten. Im Zelt herrschte mildes, graues Licht. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Es war warm, aber noch nicht drückend. Auf dem großen Diwan, über den bestickte Decken gebreitet waren, lag in festem Schlaf der König, Vater des Prinzen Gopal; zu seinen Füßen, wie es Brauch war, auf dem Boden, völlig angekleidet und jederzeit dienstbereit, sein Leibsklave Virah, der sich gleichfalls noch nicht rührte. Um den Kopf des Königs waren seine stahlgrauen Haarsträhnen gebreitet wie Fesseln, mit denen der schöne Kopf auf dem Kissen festgebunden schien. Die Stirn des Königs war gerade und nicht sehr hoch, die Nase ging ohne Sattel kurz und stumpf aus ihr hervor, die großen Augen waren unter den ausdrucksvollen Wölbungen der Augenlider verborgen, die Oberlippe eingesunken, weil die Vorderzähne ausgefallen waren, das gab dem Antlitz etwas Saturnisch-Winterliches.
Wer den König so schlafen sah, gerade ausgestreckt wie auf einer Bahre, erblickte ihn in seiner unbeeinträchtigten Majestät, aber wenn er erwachte, würde dieser Eindruck schnell dahinschwinden. Obwohl nicht uralt, war er in kurzer Zeit ein kleines Kind geworden. Seine Frauen und Töchter mußten ihn füttern, und weil er sich dabei ungebärdig betrug, wirre Reden führte und sich wehrte, achtete man darauf, daß ihn nur noch seine nächste Familie sah.
Prinz Gopal erhob sich so behutsam wie möglich, aber das sanfte Rauschen der Kissen drang in den Schlaf des Leibsklaven, der die Augen aufriß und auf die Füße springen wollte. Prinz Gopal legte den Finger auf die Lippen und schlich hinaus, über die Leiber der vor dem Zelt schlafenden Wachen hinweg.
Er sehnte sich nach Bewegung in der Frische des jungen Morgens. Ihm war, als müsse er weiterlaufen, aus dem Traum in den Tag hinein, in einem einzigen Hinübergleiten, und im Laufen eine Distanz zwischen dem Erlebnis der Nacht und sich selbst schaffen. Das Zeltlager war nicht groß. Außer dem roten königlichen Zelt gab es nur fünf oder sechs weitere für Frauen und Dienerschaft, denn der König hatte immer kleine Jagdausflüge ohne den Hof geliebt, und jetzt, in seiner geheimnisvollen und von keinem Arzt zu heilenden Krankheit, bot diese jedem in der Hauptstadt vertraute Gewohnheit einen nützlichen Vorwand, den König wochenlang den Blicken seines Volkes zu entziehen. Noch ahnte niemand, daß man den Herrscher in seiner goldenen Elephantensänfte, in der er an den großen Opferfesten durch die Straßen zum Tempel schwebte, regelrecht anbinden mußte, damit er sich nicht auf das Pflaster stürzte. Prinz Gopal liebte seinen Vater, aber er hatte erleben müssen, daß aus einem
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