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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Folgten dem weißen Prinzen Soldaten und Sklaven, die sie ohne Erbarmen wegschleppen würden? Oder war das Unvorstellbare eingetreten, daß ein solcher Mensch allein war, niemanden hinter sich, dem er befehlen konnte und der mit Stock und Spieß Gehorsam erzwang?
    Auch Gopal rührte sich nicht. Er redete die Leute nicht an, er war erst erschreckt und dann ratlos. Was tat man in solcher Lage? Der Vater saß über Übeltäter zu Gericht. Er hörte auch Zeugen, aber er war nie selber Zeuge. Neben dem Mann lag eine Axt, ein langer Stiel, an dem die gehämmerte und an einem Stein blinkend geschliffene Schneide mit schwarzem Draht festgewickelt war. Was wäre, wenn er in seiner Verzweiflung diese Axt ergriffe und Gopal in den Hals haute? Das Entsetzen, in dem die frevelnde Köhlerfamilie befangen war, hielt die Mitte zwischen den beiden ihr verbliebenen Möglichkeiten zu handeln, die sich beide gleichermaßen vorbereiteten, so daß schließlich vielleicht nur der Zufall entschied, zu welcher es kam, zu winselnder Proskynese oder zu einem blitzartigen frontalen Angriff.
    Dies war sein Volk, die Menschen, die zu beherrschen er berufen war. Niemand konnte ihm fremder sein. Und so war es denn auch kein Entschluß, den er faßte, sondern nur die Weiterführung des längst früh vor Sonnenaufgang gefaßten Entschlusses, daß er aus seinem Innehalten die Kraft zu einem ersten schnellen Schritt fand, zu einem zweiten und dritten und mit dem vierten schon wieder ins Dickicht verschwunden und den Blicken der Köhler entzogen war. Die Linie, die zwischen ihm und seinem Volk gezogen war, blieb unberührt.
    Mit jedem Schritt, den Gopal nun tat, änderte sich die Landschaft, zunächst unmerklich. Was ihm dann auffiel, war, daß seine Schritte kein Knacken mehr hervorbrachten. Das Ausgetrocknetsein von Erde und Pflanzen nahm ab. Statt über weißen Staub schritt er über Erde, die nicht geradezu feucht war, aber gesund und atmend. In die Zweige war Lebenskraft geflossen. Sie zerbrachen nicht mehr, sie bogen sich. An ihren Spitzen erschienen klebrig glänzende Knospen. An den Felsen hatten sich Moose gebildet mit samtigen Härchen. Hier und da wuchsen Büschel von saftigem Gras. Es atmete sich frischer. Es war eine Wohltat, sich in dieser Luft zu bewegen. Der Schweiß auf den Schläfen trocknete. Er fühlte sich, als habe er gebadet. Und schließlich traute er seinen Ohren nicht, als er Quellen murmeln hörte. Es war lange vor dem Monsun, und die Bachbetten dieses Gebirges führten Wasser nur in den Wochen nach dem reichen Regen. Hatte Gopal womöglich schon die Grenzen seines Reiches überschritten?
    Da war der Bach, er war kristallklar und wand sich zwischen den wassergeglätteten Steinbrocken. Ein riesiger Baum mit großen Blättern neigte sich so tief, daß es schien, als entspringe der Bach seinem verschlungenen Wurzelwerk. Am Ufer saß ein junges Mädchen und spielte mit kleinen nackten Füßen in den Strudeln. Sie war keine Köhlerin, weder verhungert noch schmutzig, sie war blühend schön und wie zu einem Fest gekleidet, in jenem weiten, faltenreichen Rock, der aus Bahnen in vielen Farben bestand und der, wenn er gewaschen auf einem Felsen zum Trocknen lag, einen großen Kreis bildete. Ihr Wams in Blau und Rot saß eng an ihrem Oberkörper. Die nackten Arme trugen viele Elfenbeinarmbänder, der Schleier war etwas nach hinten gerutscht und zeigte einen spiegelnd blanken Scheitel. Gopal erkannte, daß sie der Kaste der Schneider angehörte. An den Armreifen sah er, daß sie verheiratet war. Auf ihrer schön geformten braunen Stirn war ein gelber Punkt aus dem leuchtendsten Pigment. Er stand eine Weile still, um sie zu betrachten. Dann blickte sie auf, und sie zeigte nicht die geringste Überraschung, ihn hier zu sehen.
    Es war, als habe sie ihn erwartet. Gopal legte die Hände vor der Brust zusammen und verneigte sich lächelnd, wie er es gegenüber jedermann zu tun gewohnt war. Dies Lächeln war etwas Automatisches. In seiner Erinnerung sagte er sich, daß er niemals gewagt hätte, gegenüber diesem Mädchen gleichsam absichtsvoll zu lächeln. Aber das Mädchen grüßte nicht zurück, sondern sah ihn nur immer ernst und freundlich an. Dann stand sie auf, wandte sich zum Gehen, sah sich aber noch einmal um, und Gopal schwor sich, daß in dieser Geste eine winzige Aufforderung gelegen habe – doch, gewiß, sie hatte zwar nicht gewinkt, aber ihn mit ihrem Blick gleichsam zu sich gezogen. Und so streifte er eiligst seine roten

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