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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Schreibtisch zurückgekehrt waren und Manon sich in den ächzenden Korbstuhl setzte, der schon kaum die Last des Prinzen Gopalakrishnan getragen hatte.
    »Hier steht es: Das schöne Geschlecht wird von Begierden regiert, Frauen lieben den Glanz und sind stolz. Deshalb sollte ein König für ihre Zufriedenheit Edelsteine sammeln.«
    »Hast du etwas für mich gekauft?« fragte sie und sah mich zum erstenmal offen an.
    »Hier nicht«, antwortete ich, »hier gibt’s nichts.«
    »In Delhi wüßte ich, wo«, sagte sie träumerisch. Sie war wohl schon an entsprechenden Orten gewesen und hatte wahrscheinlich gefunden, was ihr gefiel.
    »Könige und Männer mit großen Vorhaben sollten sich ausschweifender weiblicher Gesellschaft enthalten und sie auch nicht zu viel besuchen«, fuhr ich fort.
    »Dann machst du es ja richtig«, sagte sie leise.
    »Der König sollte niemals seinen Diwan mit einer Frau teilen, die seine Liebe nicht erwidert, ihm Ungutes antut oder ihm nicht richtig antwortet, mit seinen Feinden verkehrt, stolz und faul herumläuft, ihren Kopf voll Abscheu abwendet, wenn er sie küssen will, die nicht glücklich und dankbar ist, wenn sie etwas geschenkt bekommt, die einschläft, wenn er noch wach ist, und die weiterschläft, wenn er morgens erwacht, die keine Liebesreden anhören will und auch dabei das Gesicht wegdreht ...«
    »Und wie soll die Frau bei den Indern denn sein?« fragte Manon, jetzt endlich lächelnd, aber in Gedanken.
    »Sie kann die Augen vom Gesicht ihres Mannes nicht abwenden. Sie erzählt ihm alle ihre Geheimnisse. Sie windet sich um den Hals ihres Mannes, wenn er nach Hause kommt, und überwältigt ihn mit langen, liebevollen Küssen, sagt auf jede Frage nur die Wahrheit und fühlt, wie sich Tautropfen der Liebe in ihr bilden, sowie ihr Mann sie nur leicht an der Hand faßt.«
    Manon hatte einen ausgeprägten Sinn für erotischen Humor. Ohne Berechnung hatte ich daran appelliert. Sie stand auf und küßte mich so überraschend und lang, wie sie mich bei unserer ersten Begegnung geküßt hatte. Vielleicht war alles zwischen uns nur ein Irrtum gewesen, aber sie mochte mich, das sollte dieser Kuß womöglich ausdrücken, und aus dem Mögen und Angenehmsein konnte sich mehr ergeben. Sie wollte das jetzt nicht ausschließen, gern hier »am Ende der Welt« auch ein wenig vorwegnehmen, hier, wo es keine Regeln und keine ernstzunehmenden Zeugen gab. Dann mochte im Hintergrund auch noch der Wunsch eine Rolle spielen, eine Person wie Iris in die Schranken zu weisen. Die Dame Iris sollte erkennen, daß bei Manons bloßem Eintreffen alle Karten neu gemischt wurden. In bedauerlicher Illoyalität bekannte ich Manon, daß ich Iris Winnetou nannte, sie hatte mich jetzt schon so weit, daß ich gemeinsam mit ihr über Iris lachte. Oh nein, ich seufzte nicht auf Manons Schwelle an diesem Nachmittag, aber Manon war tatsächlich für mich jetzt Jungfrau, einzig für mich da, niemals für irgendeinen Kerl davor.
    Es war die vollständige Versöhnung. Wenn man das zerfallende indische Weisheitsbuch zuschlug, wölkten Papier- und Staubpartikelchen um es herum, und genauso schlug ich das Buch der Vergangenheit zu, laut und Staubwolken erzeugend und so heftig, daß es dabei endgültig aus dem Leim ging.
    Als wir gegen Abend aus dem Haus traten, um einen Spaziergang zum Dorf zu machen, lag das Licht aprikosen-, sand- und rauchblau um Felsen und Hänge. Über die weite Fläche zwischen den schroffen und unheimlich organartig geformten Steinen bewegte sich eine kleine Gruppe von Männern mit Stäben in der Hand. Als sie näher kamen, sah ich einen alten, sehr mageren Mann mit weißem Turban, der ein großes goldenes Szepter trug, vergleichbar dem Stab eines Tambourmajors, nur eben goldfunkelnd mit dicken Knöpfen an beiden Enden. Ihm folgte der König – ich erkannte zuerst das Rot der Dhoti-Hose –, von weißgekleideten Brahmanen und dem langen, dünnen Aide-de-camp in olivfarbener Uniform begleitet. Den ganzen Tag hatte der Herrscher bei den zahllosen Opfern droben in der Felseneinsamkeit zugebracht. Doch, es hatte dort etwas zu Essen gegeben, erfuhren wir später: einen Becher Wasser und ein wenig Linsenbrei auf einem getrockneten Blatt als Teller. Das dicke, stahlgraue Haar saß wie ein metallischer Helm auf seinem Kopf. Sein Gesicht war poliert und leuchtete. Die Augen waren weit geöffnet und glänzend. Das Opferfest hatte auf Seine Hoheit verjüngend gewirkt. Die nackten, langen, mageren Füße mit den

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