Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
Vom Netzwerk:
den Körper entlangfuhr und sich zwischen die Beine schob, bis sie die schönen Schamlippen bedeckte, aber das war keine Geste der Scham, nichts abwegiger, als bei dieser Erscheinung Scham zu vermuten. Als sie die Hand vor ihrem Schoß wieder wegnahm, war ihre Innenfläche blutig – auf dem weißglühenden Hintergrund ihrer Haut hatte das Blut schwarz ausgesehen, und nun legte sie diese Hand auf Gopals Stirn und wischte das Blut daran ab. Das war für Gopal mit einem blitzartigen Kopfschmerz verbunden, der ihm die Tränen in die Augen trieb und einen Augenblick alles schwarz werden ließ, bis auf purpurn gezackte Sterne, die im Dunkeln tanzten.
    Als er wieder sehen konnte, war die Erscheinung verschwunden. An ihrer Stelle aber schoß eine hohe und kräftige Flamme an der Rinde des Baums entlang und leckte an den Ästen. Bald stand die ganze Krone in Flammen. Es krachte und knackte, aber dahinter war ein saugendes Rauschen. Wie von einem Riesenatem wurde die Flamme in die Höhe gezogen. Gopal kniete noch, als sich das Unterholz durch hinabfallende Äste zu entzünden begann. Und während er nun auf die Beine sprang und vor den Flammen davonlief, meinte er in dem Brausen der nun schon hoch aufschießenden Flammen, die zu einer Feuerwand geworden waren, das Trappeln von kleinen Füßen in schnellem Lauf zu vernehmen. Mit diesem Trappeln verbanden sich seine eigenen Schritte. Jetzt war er der Verfolgte. Die Flammen fraßen sich als undurchdringliche Mauer voran, liefen sich aber gleichzeitig voraus, überholten sich gegenseitig, hüpften auf die Spitzen der Zweige, warfen einen Funkenregen dem fliehenden Gopal hinterher und stellten sich ihm in den Weg. Und wieder hätte er nicht sagen können, wie lange er lief, aber es kam ihm nicht lange vor, zu seiner größten Verblüffung stand er unversehens auf der hügeligen, felsigen Fläche, wo die Bäume nur in großen Abständen wuchsen. Hinter ihm war die Flammenhölle. Das Feuer überragte den Wald um ein Vielfaches. Eine Rauchwolke wie von einer brennenden Stadt hob sich in den Himmel. Zugleich ging die Sonne unter und malte Aprikosenfarben in den Rauch.
    Als Gopal an dem Kejereh vorbeikam, blieb er stehen, nahm sich den rosafarbenen Turban vom Kopf und schlang ihn in die dornigen Zweige. Eine Weile stand er allein. Er dachte an nichts. Dann ging er langsam schlendernd auf den glatten Felsen zu, der das Lager seinen Blicken entzog.
    Als er sich den Zelten näherte, liefen ihm Männer und Frauen mit Schreckensrufen entgegen und warfen sich noch deutlich von ihm entfernt auf den Boden. Sein Haar stand in alle Richtungen. Seine Kleider waren zerrissen, seine Stirn blutverschmiert. Der Horizont hinter ihm war rot. Bevor irgend jemand der sich nun schüchtern Erhebenden und angstvoll Nähernden ein Wort sagen konnte, wußte Gopal, was geschehen war: Der König war tot.
    »Seit diesem Tag wird ein König von Sanchor auf folgende Weise konsekriert«, sagte Purhoti, der mir die Geschichte derart unbeteiligt und nüchtern erzählt hatte, daß kaum mehr als eine knappe Inhaltsangabe dabei herausgekommen war, »der Prätendent wird in den inneren Hof geführt, wo ihn die Großen des Reiches, die Familie und einige Brahmanen erwarten« – er tat so sachlich, als kämen für diesen Vorgang auch andere Brahmanen in Frage als Mitglieder seiner eigenen Familie – »während sich das Volk und die meisten geladenen Gäste in den vorderen Höfen drängen. Der Weihe- und Krönungsakt hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Im inneren Hof erwartet den Prätendenten eine junge Frau, Mitglied der Schneiderkaste, verheiratet, aber nicht schwanger.« Die Richtige auszusuchen obliege den Astrologen. »Dies junge und schöne Mädchen in blau-rotem Wams und weitem Rock hebt die rechte Hand, der Brahmane fährt mit einer rasiermesserscharfen Dolchklinge über ihre Handfläche, so daß ein feiner Schnitt entsteht, und wenn die Hand ganz blutüberströmt ist, drückt sie sie auf die Stirn des Prätendenten. Von diesem Augenblick an ist er König und sie seine leibliche Schwester, freilich ohne Titel oder irgendeinen ohnehin unmöglichen Wechsel des Standes.«
    »Hat auch der gegenwärtige König« – ich vermied, vom regierenden König zu sprechen – »eine solche Schwester?«
    »Hätte er keine solche Schwester, wäre er nicht der König.« Die Zeremonie habe vor sieben Jahren im Alten Fort wie immer stattgefunden, zwanzigtausend Menschen seien anwesend gewesen.
    »Und wann war das erste

Weitere Kostenlose Bücher