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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Ereignis, das Erlebnis dieses Prinzen Gopal?«
    Purhoti war auch hier präzise. Er lokalisiere die erste blutige Königskonsekration zwischen das Jahr achthundert und das Jahr tausend. »Bevor wir das Königshaus nicht im Agnikund aus dem Feuerbad hervorgeführt hatten, wäre keinem seiner Mitglieder eine Göttin begegnet – nach dem ersten Eroberungszug der Muslime aber wird von Göttererscheinungen nichts mehr berichtet, die Anwesenheit der Muslime stört die Götter.«
    Und welche Göttin sich dem Prinzen offenbart habe?
    »Manche haben sie Kali genannt, andere Durga – das Königshaus verehrt Lord Shivah, da liegt das Eingreifen seiner hohen Gemahlin nahe.«
    In einer stillen Straße mit offenen Läden, wo mechanische Nähmaschinen leise summten, näherten wir uns einem Ladenlokal, das Purhoti aufsuchen wollte. Der Schneider stand auf, als er Purhoti erkannte, und holte aus dem Hinterzimmer eine helle Hose, der er neue Hosentaschen eingesetzt hatte. Während er seine Arbeit vorführte, betrachtete ich seine Frau, die mit gespreizten Knien auf dem Boden hockte und Bohnen putzte. Sie war nicht mehr ganz jung, zwischen Nase und Mund zogen sich scharfe Falten. Als sie mich anblickte und Purhoti nach mir fragte, sah man, daß sie einen silbernen Zahn hatte. Ihr Sari war auf westliche Weise großblumig gemustert, wie man es bei uns vor allem auf Kunststofftischdecken findet. Ihre Fingernägel waren schwarz vor Erde. Sie hatte im Garten gearbeitet. Purhoti nahm seine Hose und bezahlte den Schneider, der, ohne weiter aufzublicken, sogleich an seine Nähmaschine zurückkehrte. Vor der Frau verbeugte er sich aus deutlicher Distanz mit gefalteten Händen. Sie erwiderte den Gruß, ohne Messer und Bohne aus der Hand zu legen.
    »Nun sehen Sie, daß ich Ihnen keine Märchen erzählt habe«, sagte Purhoti, als wir weitergingen.
    »Was für Märchen?«
    »Jetzt haben Sie sie selbst gesehen.«
    »Wen habe ich gesehen?«
    »Die Schwester des Königs.«

3.
Götteratem
    Obwohl ich längst nichts mehr arbeitete, weil jeder Gedanke an die wirtschaftlichen Pläne des Königs mir absurd geworden war, ging ich weiterhin jeden Morgen nach dem Frühstück hinüber in die Galerie, in der mein Schreibtisch stand wie ein Denkmal anspruchsvoller geistiger Tätigkeit. Die Remington-Schreibmaschine mit ihrem imposanten überlangen Wagen, mit dessen Hilfe ich lange Listen und vielspaltige Statistiken hätte tippen können, die Pappmappen mit ihren Baumwollschnüren, das Tintenfaß und der Zigarrenkasten standen für eine Ewigkeit bereit. Da hatte sich zwischen den bunten Scheiben der Fenstertüren eine veritable Schreibwerkstatt etabliert, die jetzt aber ebenso unbenutzt war wie die edwardianischen Phantasiestühlchen des großen Salons. Für mich war der Schreibtisch eine Zuflucht, wenn Manons Schweigen mir unerträglich wurde, aber wenn ich mich an ihn setzte, hatte ich das Gefühl, nicht ich selbst sei es gewesen, der diese dekorativen und verheißungsvollen Arbeitsanordnungen geschaffen hatte, sondern dies alles stehe seit den Tagen, in denen der Staat von Sanchor aufgelöst wurde, unberührt hier herum, nachdem der letzte Schreiber nach Hause gegangen sei. Und als sei ich immer weiter an der Arbeit, erschien Virah, kurze Zeit nachdem ich mich gesetzt hatte, mit dem Teetablett. Wahrscheinlich hielt er für meine eigentliche Tätigkeit das Am-Schreibtisch-Sitzen, und alles, was ich dann tat oder ließ, für bloß akzidentielle Zutat. Während ich wartete, daß er mir die Tasse eingoß, war alles wie vorher, als ich noch gearbeitet hatte. Als er wegging, trank ich, und das war auch noch der gleiche Vorgang wie an den Arbeitstagen, denn beim Teetrinken kann man nicht schreiben. Aber als ich die Tasse absetzte, war der neue Zustand da. Mir war, als hätte ich nicht nur die Arbeit an einem aussichtslosen Vorhaben aufgegeben, sondern jede Arbeit überhaupt, auch für die Zukunft.
    Was wäre, wenn ich von nun an jeden Morgen meines Lebens in diese Galerie hinüberginge, auf Tee wartete und dem Abend entgegensah? Im Haushalt des Königs würde mich wahrscheinlich niemand daran hindern. Man war auf Zeitlosigkeit eingestellt. Diese Galerie war so öde und verlassen wie die riesigen Bienenwaben, die von den Sonnendächern der Fenster herabhingen und wie große Pilzgewächse auf mich gewirkt hatten, so ausgesogen, papieren und brüchig erschienen sie mir, das Fette des Wachses war ganz von ihnen gewichen. Eines der Fenster wurde von den Waben beinahe

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