Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
Vom Netzwerk:
der wie ein großes Herz aussah, wie jener Muskelklumpen, der uns in der Brust zuckt, und tatsächlich pumpte der Klumpen. Die tausend Bienen wanden sich und gingen auf der Stelle, als verursache ihnen ihr Gemeinschaftswerk eine rasende Ungeduld, aber es kam dabei eine gemeinschaftliche große Bewegung heraus. Der Klumpen bestand zwar aus unzähligen Einzelleben, hatte aber jetzt ein darüber hinausgehendes eigenes Leben begonnen, das sich aus den unzähligen nährte, aber zugleich auch etwas von ihnen Losgelöstes war. Ich sah, wie ein großer Körper mit seiner Individualität aus unendlichen mit Eigenleben erfüllten Körperchen gebildet wurde. Warum sollte es unter der Heerschar der Bienen nicht welche geben, die die Vorstellung, zu diesem wimmelnd wachsenden Klumpen beizutragen, haßten und viel lieber ihre eigenen Zwecke verfolgt hätten? Aber so dissonant die einzelnen Willensbekundungen auch klingen mochten, sie alle mußten dem auch ohne ihren Willen entstehenden großen Ganzen dienen. Und dann war schließlich die von den vielen unabhängige Verlebendigung des Ganzen eingetreten, so wie auch die Nationen in ihrem Gesamtleben stärker sind und unbeeinflußbar von den Menschen, aus denen sie bestehen. Der einzelne mochte sein Land aus ganzem Herzen verabscheuen und konnte dennoch nicht verhindern, mit seiner Vernichtungskraft nur zu dem ihn überwölbenden und vollständig konsumierenden Leben eben dieses Landes beizutragen. Und nicht nur die Staaten, der Mensch selbst war geschaffen worden, wie dieser Bienenklumpen wuchs.
    Wenn dies Wachstum bis zum Abend weiterging, war womöglich eine große Gestalt entstanden. Shiva waren die Bienen heilig, und nun roch ich zum erstenmal ihren Duft. Eine Woge feinstaubig-buttrig-süßen Atems aus hunderttausend kleinen Leibern schwappte ins Innere über mich hinweg, Götteratem, Götterschweiß, bei der Arbeit des Schöpfungswerks vergossen.
    Ich wollte Manon rufen. Die Betrachtung des Bienenschwarms hätte unser Schweigen nicht gebrochen, wir hätten zusammen vor dem Fenster stehen können und das Werk des Bienenstaates bewundert. Bei den Bienen schien alles entweder sehr allmählich oder sehr plötzlich zu geschehen. Eben noch hing der langsam wachsende Bienenklumpen von tausend Bienen erregt umschwärmt da, und jetzt war keine einzige Biene mehr in der Luft. Alle hatten ihren Platz auf- und nebeneinander eingenommen. Mir war, es verberge sich unter dem Bienenzapfen ein Ballon, der langsam an- und abschwoll. Es war ein Endzustand erreicht. So, in dieser zu höchster Bienenhaftigkeit gesteigerten Verfassung mochten die Bienen offenbar eine Weile ausharren. War der Zapfen nicht überhaupt bienenförmig geworden, der Spindel gleichend, die den großen Unterkörper der Bienen bildet?
    Ich öffnete die Tür zu dem Saal, der neben unseren Schlafzimmern lag. Er war leer bis auf einen riesigen schwarz und rot gestreiften Teppich, der den ganzen Boden bedeckte. Diese Art Teppiche wurden in Zuchthäusern hergestellt, viele Hände hatten monatelang daran gewoben. Mein Schritt darauf war lautlos, als ginge ich barfuß. Am anderen Ende des Saales vor der Glastür zum Schlafzimmer hielt ich inne. Bevor ich sie öffnete, sah ich hinein. Wenn ich an mich denke, wie ich da an der Glastür stand, glaube ich mich in einem Traum zu befinden, aber es war kein Traum.
    Manon stand am Fenster. Sie war noch nicht angezogen, sondern trug ihren schwarz-weißen japanischen Kimono. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt, wie sie es im Badezimmer zu tun pflegte. Sie stand da wie eine Frauenfigur aus einem holländischen Menschenstilleben, eine Brieflesende. Aber in ihren Händen hielt sie keinen Brief. Ich erkannte dies silbrig-sperrige, fahnenartige Ding nicht gleich, das sie so angelegentlich betrachtete. Dann erinnerte ich mich. Der König lehnte, wie man weiß, alle Arten von Geschenken nichtritueller Natur ab. Als ich ihn vor Manons Eintreffen fragte, ob er etwas aus Europa mitgebracht zu haben wünsche, hatte er, wie auch bei anderer Gelegenheit, zerstreut abgewinkt. Aber dann war ihm ein Gedanke gekommen. Es gebe in Deutschland ein gewisses sehr hohes Gebäude mit Türmen, höher und größer als alles, was es in dieser Art in England oder Amerika gebe, das wichtigste Gebäude Europas, wie er gehört habe. – »Der Kölner Dom?«
    »Dies Gebäude interessiert mich«, antwortete er mit einer Miene, als werde mir nie gelingen zu erraten, warum der Kölner Dom ihn beschäftige. Es ging mich auch

Weitere Kostenlose Bücher