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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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nichts an. Deshalb hatte ich Manon gebeten, einen repräsentativen Bildband über den Kölner Dom mitzubringen, und sie hatte auch einen gefunden und das schwere Buch, eingewickelt in eine vor Stößen schützende Blasenfolie, unter Klagen mitgeschleppt. Es wunderte mich nicht, daß der König, als wir das Buch überreichten, keinen Blick darauf richtete. Es wurde auf ein Tischchen gelegt und blieb dort, solange wir in Sanchor waren, unberührt liegen. Aber die Blasenfolie fand Verwendung. Das silbrige Material, das Manon jetzt so eindringlich wie einen alten Brokat studierte, war diese Folie.
    Und als ich die Tür öffnete, ganz leise, nur für einen Spalt, hörte ich ein leises Knallen, ein weiteres leises Knallen, und immer weiteres Knallen, und ich verstand, daß sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Geschäft widmete, die Kunststoffblasen der Folie mit den Fingern zum Platzen zu bringen. Keine Blase sollte ungeknackt bleiben. Die kleinen Knaller, die das Platzen anzeigten, mußten sie mit tiefer Befriedigung erfüllen, oder eben nicht mit tiefer, weil nie genug geknallt werden konnte, der Reiz war so flüchtig, daß er nie Überdruß erzeugte. Ich lauschte gebannt. Ich war durch das Knallen der platzenden Blasen genauso gefesselt wie sie, und ich wagte nicht, den Raum zu betreten oder mich bemerkbar zu machen. Es war mir klar, daß ich soeben Einblick in Manons geheimstes Leben erhielt. Jetzt war sie ganz bei sich. Sie mußte keine Rolle spielen und nicht kokettieren, nicht lügen und nicht rätselhaft sein. Sie mußte nichts Interessantes sagen, und sie mußte, was sie im Innersten bewegte, nicht verbergen. Sie konnte sich ausleben. Sie war im Verborgenen und folgte der Lust, die sie ganz erfüllte. Blase für Blase zerstörte sie diese Blasen.
    Ich stand bewegt und voll Bangigkeit da. Ich verstand von Manon so viel wie mein König vom Kölner Dom. Ja, ihm gegenüber war es mir leichtgefallen, mich überlegen zu fühlen. Wir können nur sehen, was wir längst kennen, was schon unsere Ureltern gekannt haben. Ein Bauwerk wie der Kölner Dom kam in den ererbten Erfahrungen des Königs nicht vor, er war davor geschützt, dieses monumentale Zeugnis einer irgendwie auch bedrohlichen fremden Kultur wirklich wahrzunehmen. Er war überzeugt, daß er mit Sanchor, mit der Herkunft seiner Familie aus dem Feuer, mit seiner Religion und ihren heiligen Schriften, mit den Sprachen und Dialekten seiner Völker, mit ihren Gebräuchen und Trachten die ganze Welt kenne. Der Kölner Dom war für ihn wenig mehr als für unsereinen ein Mammut im ewigen Eis. Aber mit Manon und mir war es doch ganz anders. Manon gehörte doch zu meiner Welt, oder besser, sie war meine Welt, ich bewegte mich in einer von ihr angehauchten und zum Leben erweckten Atmosphäre. Sie war kein Fremdkörper in dem Reich meiner ästhetischen Begriffe, meiner Erfahrungen und Überzeugungen, sondern sie hatte dieses Reich belebt und geradezu angezündet, ich verstand, seitdem ich sie kannte, daß ich und meine Gedanken nicht aus versteinertem, sondern aus im höchsten Maß entzündlichem, brennbarem, womöglich explosivem Material bestanden. Und doch hatte ich offenbar nur einen winzigen Zipfel ihres Gewandes zu fassen bekommen. Und wenn die griechischen Orthodoxen einen solchen, Engel und Heiligenkörper umflatternden Gewandzipfel auch »Pneuma-Zipfel« nennen, weil er das Wehen des Geistes sichtbar macht, so hatte sich bei mir jedenfalls der Geist sofort verflüchtigt, als ich nach diesem Zipfel griff. Die Manon, der ich schmeichelte, mit der ich kämpfte, die ich verfluchte und der ich verzieh, bevor sie überhaupt nur darum gebeten hatte – sie tat das nie –, war nur ein verschwindend kleiner Aspekt ihrer Person. Ich mußte mir eingestehen, daß die Manon, die in sich ruhte und sich selbstvergessen und leidenschaftlich dem Blasenaufknacken hingab, mit mir wahrscheinlich nicht das geringste zu tun hatte. Es kam mir sinnlos vor, sie zu den Bienen zu führen. Was sollten ihr die Bienen?
    In diesem Augenblick betrat Virah das Schlafzimmer mit neuem Tee. Er näherte sich ihr gewohnt lautlos von hinten, aber so tief sie auch versunken war, sie hatte seine Annäherung doch wahrgenommen und sagte zu ihm ohne sich umzudrehen: »Danke, Virah«.
    Wie plump meine Nerven organisiert waren, daß ich beständig zusammenfuhr. Dann drehte sie sich um und ging zu dem Tischchen und dem Teetablett. Ohne den Kopf in meine Richtung zu heben und ohne ein Zeichen, daß sie meine

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