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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Schal um den Kopf gewunden hatten, starrten uns nach, als seien wir die unheilvollen Vorboten einer wilden Jagd.
    Der Tempel lag unterhalb einer Steilwand, deren Abschluß hoch oben von ruinenhaftem Gemäuer gekrönt war: die einst strahlend uneinnehmbare Festung des Reiches, jetzt aufgeknackt wie eine Nuß, deren zertrümmerte Schalen man hat herumliegen lassen. Außerhalb der Tempelmauern erstreckte sich ein großes Becken, in dem Gras und kleine Bäume wuchsen. Die Treppenstufen, die zu dem reinigenden Wasser herabführen sollten – freilich war das Becken nur nach dem Monsun einigermaßen gefüllt –, lagen kreuz und quer, als habe eine mächtige Faust sie zerschlagen.
    Wir zogen unsere Schuhe aus. Ein alter Mann nahm sie in seine Obhut, während wir das Tempeltor durchschritten. Im Innern öffnete sich ein weites Geviert mit vielen kleinen Kuppelgebäuden. Der Tempel von Achaleshwar glich einer Hürde, in der eine Schafsherde weidete. Riesige alte Bäume, in deren Gezweig bunte Fähnchen flatterten, breiteten ihre Äste und Wurzeln aus. Auf den unregelmäßigen Marmorplatten des Bodens, auf denen abgetretene Schriftzeichen und Ornamente verrieten, daß sie von untergegangenen Gebäuden genommen waren, saß ein struppiger junger Mann mit einer Kastenharmonika, die, während er sie auf- und zuklappte, einen weh-saugenden Akkord von sich gab; dahinein ließ er seine klagende, beinahe schreiende Stimme fahren, zu einem verzückten Liebeslied an die Gottheit, und diese Klagegewalt litt nicht darunter, daß er sie erst aus sich herausholte, als er unser ansichtig geworden war. Als die Liebesgewalt ihm die Augen brechen ließ und sein Kopf in den Nacken sank, wie wenn die Liebe jetzt von allein aus ihm herausströme, setzte das Kreischen einer Motorsäge ein und nahm den heiligen Gesang ganz in ihren Lärm auf.
    Es wurde gebaut in dem stillen Tempelbezirk. Hier einmal war nicht nur von Plänen und Absichten die Rede, hier hatte das Erneuerungswerk bereits begonnen, das den königlichen Äon ausfüllen sollte. Kleine Familien näherten sich, am unter dem Lärmdach der Säge weitersingenden Harmonikaspieler vorbei, dem Heiligtum. Man machte sich zu diesem ländlichen Tempel von weit her auf den Weg. Ein barfüßiger Priester mit feinen, durchscheinenden Fledermausohren kam tänzerisch-plattfüßig den Pilgern entgegen und winkte sie ins Innere. Unter einem Steinbaldachin lagerte ein lebensgroßer Messingstier mit ballonartig aufgeblähtem Leib, starr triumphierenden Augen und kugelrunden Hoden. Dieser Bulle habe Sanchor einst während einer der schlimmsten mohammedanischen Invasionen errettet, sagte Sanjay düster. Es war überraschend, ihn in der Rolle des Fremdenführers zu erleben, aber es war gewiß keine Höflichkeit, die ihm diese Worte entlockt hatte. Wer wußte schon, was er beim Gedanken an mohammedanische Eroberungen empfand. Alles, was an ererbtem Priesterwesen in ihm steckte, mußte sich dagegen wehren. Seine Miene nahm den Ausdruck von Grausamkeit und Fanatismus an – was ihn beträchtlich verschönte –, als er uns den Axthieb vorspielte, der auf Befehl des siegreichen Sultans in den Leib des Rindes fuhr. Die Klinge traf, der Messingbauch barst und entließ einen Strom von hunderttausend Bienen, die im hohltönenden Messingdunkel diesen frevelhaften Befreiungsschlag erwartet hatten. Als böse summende Wolke senkten sie sich auf die Soldaten des Moguls herab. Panik brach in den Truppen aus. Die Soldaten schlugen um sich und versuchten vergeblich, ihre Augen zu schützen. Gegen dies zu fuchtelnden Einzelwesen zerfallende Heer rückten die geordneten Reihen der Armee von Sanchor vor. Die Bienen unterschieden zwischen Freund und Feind. Kein Kämpfer für Sanchor wurde gestochen. Ich stellte mir vor, daß die Bienen für Sanjay etwas aktuell Politisches besaßen, erdhafte Mächte, die sich für die gerechte Sache erhoben. Seinem Vater hätte ich ohne Zweifel erklärt, daß man rund ums Mittelmeer einst an die Entstehung der Bienen aus dem Kadaver einer Kuh geglaubt habe. Bei ihm hielt ich den Mund.
    Sanjay trat in dieser Schilderung aus sich heraus. Es war, als erzähle er uns von einem inneren Bild, das deutlich vor seinen Augen stand. Uns? Nein, natürlich nur Manon. Schon beim Schuheausziehen am Tempeltor hatte sein nächtlicher Blick auf ihren zarten, langen Füßen mit dem hohen, von den Sandalenriemchen leicht geröteten Spann geruht. Er hatte lange Beine, unter dem dünnen Stoff seiner Hose zeichneten

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