Das Beben
regelmäßig hier einfinde, wie es alle seine Vorfahren getan hätten. Im Altar des Tempels befinde sich ein Loch, das zu den Wundern der Erde zähle. Es sei unmeßbar tief und reiche einer plausiblen Tradition zufolge bis in den Mittelpunkt der Erde. Wissenschaftler, so bemerkte er mit abschätzigem Triumph, hätten versucht, die Tiefe des Lochs auszuloten – ohne Erfolg. Er lächelte und sah sich um, und Purhoti und Dr. Sharma lächelten gleichfalls, weniger ostentativ allerdings, geradezu gehorsam. Ich wußte, wie wichtig es dem König war, daß Wissenschaftler ihre Kunst erprobt hatten und auf wunderbar bestätigende Weise gescheitert waren. Es handele sich bei diesem Loch um einen umgekehrten Natur-Lingam, einen als Röhre in die Erde hineingewendeten Riesenphallus von Lord Shiva, eine Kraftquelle ohnegleichen. Er versäume nie, in Achaleshwar Kraft zu schöpfen. Der fledermausohrige Priester in seiner watschelnden Feingliedrigkeit führte mich ins Innere des Heiligtums. Manon schloß sich einfach an, von der Leheria umweht, in keineswegs gedämpfter Erscheinung, vielmehr in der Stummheit zu voller Schönheit aufgeblüht, ohne daß der König ihr einen Blick schenkte. Sie wandelte daher wie eine Statue. Sie war stumm, aber diese Stummheit bezog sich nicht allein auf den König, sondern auch auf mich, sie war zu etwas Grundsätzlichem geworden, Manon fühlte sich wohl in ihr, sie verzichtete auf nichts. Nur eben Purhotis Sohn war von diesem Schweigen ausgenommen.
Als wir im Innersten der heiligen Kammer auf den von Blütenblättern überladenen Altar blickten und zwischen Rosen und Nelken das kleine schwarze Loch betrachteten, nicht breiter als ein Ei, sagte sie unversehens: »Unglaublich tief«, und der Sohn Purhotis, dessen hohle Wangen ganz vom Roßhaar seines Bartes ausgefüllt waren, fing ihren Blick auf und antwortete: »Das ist einzigartig.«
Einen Stock hätte man in dies Loch stecken können. Der wäre dann die Weltachse gewesen. Gab es ein zweites Reich, das sich rund um die Weltachse wie ein aufgespannter Schirm entfaltete? Was zählten noch Wasserreichtum, dichte Wälder und volkreiche Städte? Dergleichen bildete sich erst in einem gewissen Abstand zum Hochspannungspunkt, um den herum erst einmal Leere zu herrschen hatte.
Obwohl gelegentlich die Motorsäge kreischte, hatte Seine Hoheit den Tag für ein Picknick im Tempel ausersehen. Er hätte natürlich befehlen können, daß die Säge schwieg, aber ihm gefiel wohl der Gedanke, durch ihr Kreischen an sein Wiederherstellungswerk erinnert zu werden. Nicht lähmen wollte er dies Werk durch seine Anwesenheit, sondern fördern. Wer taub gewesen wäre, hätte nun ein Bild des schönsten bukolischen Friedens geschaut, wie denn ein Mahl im Freien unter dem Schatten großer Bäume vielleicht die Glücks-Chiffre schlechthin ist. Große Tücher waren an einer erhöhten Stelle ausgebreitet, über die ein besonders knorriger Ast ragte. Man sah von hier über den ausgetrockneten Tempeltank zu einem kleinen, halb eingestürzten Palast hinüber, den ein Vorfahre Seiner Hoheit erbaut hatte, ein Monarch, der sein Glück in den Armen von Tänzerinnen suchte, wie Purhoti leise sagte, betont sachlich, nicht ein Funke des Tadels lag darin, irgendwo muß das Glück schließlich gesucht werden, und daß das an der falschen Stelle geschieht, ist das Übliche. An der richtigen Stelle hatten es die heiligen Männer gefunden, die sich unweit unseres Picknickplatzes unter würdigen Steinkuben und nahe bei dem ungemessen tiefen Loch hatten bei lebendigem Leibe begraben lassen. Ihnen gehörte der Respekt Purhotis. Zwischen dem eingestürzten Palästchen und diesen Grabstellen taumelte das wunderliche Leben auf der breiten Bahn der Mittelmäßigkeit.
Virah trug heute eine weiße Livree, die dem Kapitänsanzug des Königs bis hin zu den Schmutzrändern um die Knopflöcher glich. Gemeinsam mit dem hageren Aide-de-camp leitete er unsere Handwaschung, indem er Wasser aus einer Kanne in dünnem Strahl über unsere Hände goß, auch über die Manons, die sonst keine Beachtung fand, als sei sie unsichtbar, und die doch eine Augenweide war, so stolz und sicher bewegte sie sich. Allein, wie sie auf dem Boden saß, mühelos, unangestrengt, anmutig, war ausführlicher Betrachtung wert. Purhotis Sohn verschlang sie denn auch mit Blicken. Sein pechschwarzes Augenpaar krabbelte insektengleich über ihre Glieder; ich meinte zu sehen, daß seine Blicke eine Spur auf Manons Haut
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