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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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sicher und zielbewußt und eilte durch die Halle, eine Wasserflasche in Händen, auf das Kabinett des Königs zu, und sie verschwand darin, ohne den Schleier ihres Sari auch nur von den Schultern über den Scheitel zu ziehen. Das Flügeltor wurde wieder geöffnet. Der faunische kleine Chauffeur und der schmutzige Greis aus dem Neuen Palast hielten die von Eisenfedern gehaltenen Türflügel auseinander, eine ältere Frau mit weichen, etwas zerfallenen Zügen, modern geschminkt und frisiert, in einem rötlich und bräunlich gewebten Seidensari, erschien im Türrahmen. Auf sie richtete sich sofort die allgemeine Aufmerksamkeit. Die Diener verneigten sich, die in der Ecke der Halle kauernden alten Dienerinnen hoben ihre gefalteten Hände wie in Anbetung, Gopalakrishnan Singh neigte sich und eilte ihr entgegen, nicht ohne mir im Vorübergehen zuzuraunen: »Ihre Hoheit, die Königin.« Er begleitete sie durch die Halle und führte sie in das Kabinett des Königs, in dem seine unverschleierte Frau sich immer noch aufhielt.
    Schließlich sah ich das mich Verstörendste. Neben dem Eingang standen meine beiden Koffer, auch noch eine weitere große Tasche. Ich sah zu Iris hinüber. Sie nickte.
    In der allgemeinen Beklommenheit wagte ich keine Frage zu stellen oder auch nur auf Iris zuzugehen. Dafür fand sich Dr. Sharma unversehens an meiner Seite. Heute räche sich die Lage von Sanchor, die große Abgelegenheit, sagte er leise. Wenn man Hiseinis sofort gefunden hätte und dann mit dem Helikopter nach Udaipur in die Klinik gebracht und sofort behandelt hätte, wären Chancen für seine Gesundheit dagewesen.
    »Ist der König tot?«
    »Nein, tot noch nicht, aber gelähmt, vielleicht auch blind, unansprechbar, stumm. Ein Schlaganfall.« Ob er aus seiner Erstarrung noch einmal erwache, sei ungewiß, vielleicht auch gar nicht wünschenswert. Als man ihn, Sharma, endlich gefunden hätte – er habe sich bei den Neun Musen aufgehalten –, sei der König schon zwei Stunden unbeweglich gewesen. Der Transport vom Alten Fort war nicht einfach, die engen, steilen Treppen dort machten es beinahe unmöglich, einen derart großgewachsenen Mann, der wie ein rohes Ei zu behandeln war, herauszutragen. Iris trat zu uns. Sie hatte heute ein letztes Mal in der Fledermauskammer gearbeitet und sie dann zugeschlossen. Strahlend schön sei das Räumchen geworden, das jetzt darauf warte, daß die Fledermäuse wieder einzögen. Nichts in ihrer Miene verriet, daß sie sich an die Vorkommnisse in dieser Kammer erinnerte. Nichts als Stolz über ihre Arbeit erfüllte sie. Sie war eine Spezialistin.
    »Wo ist Manon?« fragte ich, indem ich sie unterbrach. Vor Sharma hatte ich keine Bedenken. Sie zauderte mit der Antwort, aber ich sah, daß sie es wußte.
    »Sie ist nicht mehr da«, sagte sie schließlich.
    Sie sei gerade die Treppe von der Kammer in den Hof hinaufgestiegen, als sie Manon aus dem Frauenhaus kommen sah. Manon sei nicht allein gewesen. Ein dunkelbraun gebrannter Mann habe sie begleitet, kein Inder, im Blazer mit Goldknöpfen. Manon sei ihm, wie es schien, widerwillig gefolgt, in einem gewissen Abstand und mit abgewandtem Kopf. Im Hof habe dann eine große schwarze Limousine gestanden. Und im Nu seien sie abgefahren.
    Eine Flut von Bildern stürzte auf mich ein: Manon in dem alten Frauenhaus, unter den tausend staubigen Christbaumkugeln, im Halbdunkel zwischen den schäbigen Möbeln vom Dachboden, das Klavier öffnend und einen verstimmten, laut scheppernden Akkord anschlagend. Wo hatte sie dort geschlafen? Welch einzigartig gruftähnliches Liebesnest hatte Seine Hoheit ihr bereitet? Dann fand ich schließlich zu der Frage, die mir nun als die allein wesentliche erschien: »War das vor dem Zusammenbruch des Königs oder danach?«
    Iris zuckte mit den Schultern. Wir hatten deutsch gesprochen, aber Sharma hing an unseren Lippen und las ihnen jedes Wort ab. Als ob er mir antworten wolle, sagte er: »Niemals ist Hiseinis allein gewesen. Nie hat er einen einzigen einsamen Augenblick erlebt. Wenn er schlief, schlief sein Aide-de-camp im angrenzenden Zimmer. Er betete mit seinen Priestern, er aß im Angesicht seiner Leute. Er mußte nur die Stimme heben, damit ein Mann vor ihm stand. Aber als er im Alten Fort zusammenbrach, war er allein.«
    Gopalakrishnan Singh hob den Vorhang, der die Tür des königlichen Kabinetts verdeckte, sah sich nervös um und kam dann auf uns zu.
    »Schlecht sieht es aus. Seine Hoheit spricht nicht und hat die Königin nicht

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