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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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erkannt. Was meinen Sie, Dr. Sharma? Sollen wir Prinz Gopal rufen lassen?« Er zog ihn zur Seite.
    »Gopal ist der Sohn. Er arbeitet als Leiter eines Fast-Food-Restaurants in Florida«, flüsterte Iris mir zu. »Wenn sie Gopal rufen, wird es ernst. Es gab hier einen großen Konflikt. Sie reden nicht darüber, aber man kann es sich vorstellen. Wärst du gern der Sohn dieses Mannes gewesen?«
    Ewigkeitsluft hatte ich in Sanchor geatmet. Was mir hier begegnet war, war auf unbegrenzte Dauer eingerichtet. So viele Untergänge hatten das Reich und seinen Herrscher zu einer Form finden lassen, die nun jeder Drohung die Stirn bot. Und dann hatte eine beinahe unmerkliche Bewegung, einer sachten Hebung und Senkung der Erdkruste vergleichbar, die Säule des Reiches zum Einsturz gebracht. Ich fragte mich unwillkürlich, ob diese stille Katastrophe in der meteorologischen Station zu Füßen von Manons Dachterrasse aufgezeichnet worden sei.
    Ein gedämpftes Brausen drang in den Saal, das ich erst allmählich als einen Gesang aus zahllosen Kehlen erkannte. Die Devasi draußen verkürzten sich die Wartezeit auf die Audienz mit Singen und Tanzen. Sie wußten, daß es beim König wie bei ihnen nicht um das Einhalten von Uhrzeiten ging. Irgendwann würden sie vor ihm stehen, wie ich es gesehen hatte, als der König auf der erhöhten Bank am Eingang des Familientempels saß, die Bauern seine Füße küßten und sich dann wie Kinder ganz nah an ihn schmiegten, indem sie die Hände auf seine Schenkel legten und hinauf in sein bestrickend lächelndes Gesicht blickten. Wie ich beim Blick aus dem Fenster erkannte, saßen jetzt alle Männer dicht bei dicht um einen einzelnen Tänzer herum, der ein schöner Junge mit geradezu übermäßig großem Turban war und mit weit ausgebreiteten Armen zu dem Lied seiner Stammesgenossen tanzte. Sie sangen mit Diskantstimmen, die sie am Ende einer Phrase leiser werden ließen, dann war es, als sinke ein Schwarm Stare langsam auf ein Feld hinab. Anschwellend und abschwellend trieb der Chor den Tänzer an. Neben mir bemerkte ich Virah, der mit ganzer Seele am Anblick des Tänzers hing. Spürte er den Sog, nach draußen zu den Männern seines Volkes zu eilen und das Barett wegzuwerfen, um es mit dem roten Turban zu vertauschen? Der Dienst beim König war Ehrendienst, aber er forderte ein Leben in Einsamkeit unter Menschen, die eine andere Sprache sprachen. Der Starengesang im Hof wurde ein elastisches Klangkissen, auf dem der Tänzer sich federnd wiegte. Vielleicht würden dieser Tanz und dieser Gesang gar nicht abgebrochen werden müssen, wenn sich dort unter den Sängern die Kunde vom Verstummen des Königs verbreitete. Das waren keine Freudenlieder, die vor dem Ernst des Lebens zu schweigen hatten. Vielleicht drang dieser sirrende, gedämpft grelle Chor in das Bewußtsein des Ohnmächtigen und wurde dort zu etwas Festem, zu einem Stahlseil, an dem sich Schritt für Schritt der Weg zum Leben zurück oder voran zum Tod entlanghangeln ließ.
    Ein Hinauswurf war es nicht, was Iris und ich erlebten, zu beiläufig schuppte der Palast uns ab. Er könne uns keinen Wagen bis Udaipur geben, sagte Prinz Gopalakrishnan Singh zerstreut, als sei über unseren Aufbruch längst ausführlich gesprochen worden. Bis zur nächsten Bahnstation bringe uns der Wagen, wenn wir Glück hätten, fänden wir dort morgen einen Zug. Leider seien die Züge meist ausverkauft. Seine Verneigung geschah, gleichsam ruckartig, dann wieder in gemessenem Ernst. Er verfügte nicht über das Lächeln seines Bruders, aber an Würde ließ er es nicht fehlen.
    Angenehm war eine solche Nachtfahrt nicht, auch wenn vorher nicht so häufig über die Seuche der Straßenräuberei gesprochen worden wäre. Schweigend saßen wir im Fond, nach Aufmerksamkeiten war uns nicht zumute. Als ich das erste der ausgebrannten Autowracks am Straßenrand bemerkte – bis zum Bahnhof folgten sicher noch zehn, denn die übermüdeten, von Drogen wachgehaltenen Lastwagenfahrer fielen über ihren Lenkrädern immer wieder in kurzen, unheilvollen Schlaf –, träumte ich mir zurecht, es könne dem Auto des Herrn Tofet mit Manon auf dem Rücksitz doch gut ein ebensolches Schicksal widerfahren. Dann wäre Manon eine Sati, ihrem Geliebten in Treue verbunden bis in den Tod – jedenfalls könnte man es so deuten, dann hätte sie noch Glück im Pech gehabt. Außer bösartigen, zynischen Gedanken bekam ich nichts mehr hin, während ich auf die dunkle Straße starrte.
    Wir hatten

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