Das Beben
nicht wenigstens gelindert durch die heilige Anwesenheit der mütterlichen, gedankenversunkenen Tiere. Ich sehe die heilige Kuh auf einer vielbefahrenen Autobahn zwischen Köln und Frankfurt liegen und eine Bild-Zeitung auffressen. Ich sehe unsere beliebtesten und deshalb hassenswertesten Fernsehgesprächsrunden, durch die gemächlich die heilige Kuh schreitet, ein Manuskript des Moderators kauend und eine halbe Stunde lang vor der Linse der Kamera verweilend. Ich sehe die heilige Kuh in unseren höllenmäßigen Häuschen-Vororten, zwischen den Jägerzäunen und Garagen, große Fladen hinterlassend und den toten Asphalt mit reichen Gaben ihres heilbringenden Urins besprengend. Zwischen den Kaufhäusern im heftigsten Weihnachtsgeschäft, von Millionen aus- und angeknipsten Glühbirnchen bestrahlt, im Geschiebe der hochbeladenen Käufer: die heilige Kuh. Man stelle sich eine Wahlversammlung vor mit einem berühmten Politiker, von Fähnchen und Lautsprechern eingerahmt, seine kunstvoll kalkulierte Rede routiniert abwickelnd – und vor ihm schreitet bescheiden und würdig und voller Güte eine heilige Kuh vorbei. Wäre nicht, so scheint es mir zwingend, jedes seiner geschliffenen, in Parteigremien prämeditierten Worte augenblicklich geradezu fundamental in Frage gestellt, durch das bloße stumme Vorbeiziehen der Kuh? Nur sehr wenig in unserer Welt würde der Gegenwart der heiligen Kuh standhalten. Es liegt im Vermögen der Heiligkeit, durch bloße Anwesenheit die richtige Rangfolge herzustellen oder wiederherzustellen. Dafür darf das Heilige eben nicht zu klein sein. Um Sand im profanen Getriebe zu sein, darf das Heilige kein Sandkorn sein. Es muß eine gewisse unübersehbare Dimension haben, um als heilsames Hindernis zu wirken. Es sollte kein Elephant sein – was zu groß ist, wirkt leicht unverbindlich. In den Ausmaßen einer Kuh ist das Heilige unbesiegbar, und die offensichtliche Unbesiegbarkeit des Heiligen ist das für uns Notwendigste.
Dieses alles wollte ich Manon mitteilen, philosophische Reflexionen, die mir im Angesicht der heiligen Kuh von zwingender Klarheit schienen, ohne die große milde Kuh-Gegenwart aber viel weniger zwingend klingen mußte. Immerfort sage ich von den Augen der heiligen Kuh, daß sie wenig den europäischen Kuhaugen, dafür aber eher Eselsaugen oder am Ende gar Antilopenaugen glichen, und die Antilopenaugen waren die Augen von Manon – ja, es kommt mir jetzt vor, als sei alles, was ich von der heiligen Kuh gesagt habe, auf eine gelegentlich verquere, aber doch allzu deutliche Weise auf Manon bezogen gewesen. Heiligkeit, welcher orthodoxen oder ketzerischen Art auch immer, wollte zu ihr freilich nicht passen, eher Ausgestoßenheit oder wenigstens Abgesondertheit, und keineswegs nur von heilbringender oder besänftigender oder wenigstens beruhigender Art. Und es war noch nicht einmal sicher, ob sie aus meinem Kuh-Gesang die Liebe heraushören würde. Sie war außergewöhnlich begabt, aber sie begriff es als ihr Vorrecht, auch das Allerbanalste immer wieder mit der größten Herzensinnigkeit auszusprechen und zu empfinden. Kein Hinweis auf Homer und die Boopis Hera würde mich entschuldigen, wenn sie plötzlich begriffe, ich hätte sie in Verbindung mit einer Kuh gebracht.
2.
Der Kuckuck mißt die Zeit
Der Neue Palast lag auf einer Ebene vor der Stadt, umgeben von einer schier endlosen Mauer, an der man schon entlangfuhr, als an das große Tor noch gar nicht zu denken war. Wenn Palastbauten etwas über die Verfassung eines Landes sagen, über die Art, wie der Monarch regiert, dann war mit der Wahl dieses Ortes ein deutlicher Schritt weg vom alten Sanchor getan. Nicht mehr in der Mitte des Volkes, sondern unsichtbar, weit aus allen öffentlichen Lebensbezügen herausgerückt, von einem Glacis der Leere umgeben, wollte sich der Herrscher des Jahres 1900, der Großvater des regierenden Herrn, Maharao Saroop Singh, dargestellt wissen. Ganz so abgeräumt sollte das Glacis im übrigen nicht erscheinen. Es bestand wohl die Hoffnung, daß die Stadt sich auf den Palast hin entwickeln und ihm nachwachsen werde, und ein imposanter Boulevard, der mit mehreren offiziellen Regierungsgebäuden gesäumt war – ebenerdigen, aber sehr würdigen Bungalows, die jeweils einen großen gefegten Hof mit Fahnenmast umschlossen –, führte tatsächlich auch schon aus der Altstadt heraus und auf den Neuen Palast zu, war aber auf halber Strecke steckengeblieben. Häuschen und allerlei mißratenes,
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