Das Beben
daß man sich dadurch nähergekommen wäre. Wie die sie umfahrenden Autos, wie plötzlicher Maschinenlärm, wie das Geschrei des Marktes ertrug sie auch das Melken. Auch an der Auffahrt zum Palast in Sanchor erwartete mich die Kuh, langsam hob sie mir ihren Kopf entgegen, wir mußten halten und warten, und so stand sie lange vor meinen Augen, vom Scheinwerferlicht aus der Dunkelheit gehoben. Es war weder Trotz noch gar Faulheit, daß sie die Bahn nicht freigab. Es war, diesen Gedanken meinte ich hinter ihrer hellgrauen Stirn zu fühlen, ihre immer neue Frage, was diese unruhigen zweibeinigen Lebewesen in den rollenden Gehäusen eigentlich im Schilde führten. Wie gern wollte sie jedem Wunsch entsprechen, wenn sie ihn nur verstanden hätte. Und genau so waren auch ihre sich allmählich aus dem edlen Torso entwickelnden Schritte, die sie aus dem Scheinwerferkreis führten, kein Nachgeben oder Zurückweichen, sondern gehendes Denken, das zu ihrer Verwunderung die Einsamkeit im Dunkeln wiederherstellte. Hinter dem Kuhschwanz rumpelten wir auf dem ausgefahrenen Weg an ihr vorbei.
Wohin ich mich in den nächsten Tagen auch begab, die Kuh war schon da. Ich bog in Sanchor in eine Gasse und stieß dort auf die Kuh, die im Schatten stand und die Kühle auskostete. Als sie meinen Schritt hörte, wandte sie mir den Kopf zu und erfaßte mich mit jenen melancholischen Eselsaugen. Jeder, der in Europa schon einmal auf einer Kuhweide war, kennt das unbehagliche Gefühl, wenn die Kühe den Eindringling bemerken und näher kommen. Nicht nur Stiere, auch Kühe können bei uns angriffslustig sein. Es heißt, sie beruhigten sich, wenn ihnen der Mensch selbstsicher entgegentrete, nicht davonlaufe, sondern seine Brust zeige und mit den Tieren spreche. Wer kein Landkind ist, braucht dafür Mut. Ich bekenne, daß ich vor einer sich, wie mir schien, drohend nähernden Phalanx von Kühen schon davongelaufen bin. Meine indische Kuh in ihren tausend Inkarnationen hat in mir niemals, trotz Hörnern und körperlicher Kraft und Gewicht, auch nur die leiseste Besorgnis ausgelöst. Ebenso wenig, wie ich mir von Bäumen oder Felsen eines Angriffs gewärtig wäre, fürchtete ich die heilige Kuh. Ich hätte mich neben einer lagernden heiligen Kuh zum Schlafen ausgestreckt, selbstverständlich nicht in der Erwartung, daß sie meinen Schlaf bewache. Die vollständige Gewaltlosigkeit muß auch mit vollständiger Interesselosigkeit einhergehen, das lehrte mich die Kuh. Sie war keine Heuchlerin. Sie war rein.
Ich bin hinfort außerstande, die Heiligkeit der heiligen Kuh irgendwie augenzwinkernd oder überlegen völkerkundlich zu betrachten. Ich habe an der Gestalt der heiligen Kuh so viel Heiligkeit erfahren, wie uns auf Erden überhaupt möglich ist. Zunächst eine konkrete Heiligkeit, keinen abstrakten Begriff, sondern ein großes lebendes Tier, größer als der Mensch und seiner berechnenden, alles zergliedernden Denknatur unzugänglich, in den Augen aber stumm-beredt zu ihm sprechend. Ein Tier, das nicht unterworfen und nicht beschädigt werden darf, ein Tier außerhalb der Pyramide von Befehl und Gehorsam und dennoch selbstlos den Menschen mit allen Ausscheidungen beschenkend: mit dem Dung Wärme spendend, mit dem aus der Milch gewonnenen Butterfett Licht. Seine Heiligkeit ist so fremdartig, wie alles Heilige den Menschen fremd sein muß, sie ist so entrückt, wie die Heiligkeit allem Profanen entrückt zu sein hat, aber sie ist zugleich allgegenwärtig. Es gibt keinen Ort ohne heilige Kuh. Sie steht in den einsamsten Waldtälern oder zwischen dem erregten Hupen von tausend Autos. Sie liegt am Rand der Lehmhütten und der Villenviertel, sie steht mitten im Marktgewühl, nachdenklich kauend und vollkommen allein auf weithin ausgedörrtem Feld. Jeder kann das Heilige täglich sehen, ohne daß die Sphären sich unzulässig vermengen, niemals droht der Heiligkeit die Profanisierung, und niemals ist der Alltag versucht, sich lästerlich Heiligkeit anzumaßen. Durch ihre Augen sind die heiligen Kühe den Menschen zugleich aber wieder nahe genug, um die Heiligkeit als etwas unserer Natur nicht grundsätzlich Verschlossenes erscheinen zu lassen. Ich habe begriffen, daß die heiligen Kühe ein Schatz sind, den die ganze Welt sich aneignen müßte.
Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus! Wohl keines unserer Übel würde
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