Das Beben
improvisiertes und schon wieder halb eingestürztes Gemäuer füllten jetzt schütter wie nach einer Erdbebenkatastrophe das steinige, öde Gelände. Die Parkmauer war nicht Krönung und Blickpunkt einer großzügigen Fluchtlinie geworden, sondern Damm und Schutzwehr gegen heranspülenden Unrat.
Im Portikus mußte sich der Wagen erst um eine enge Kurve winden, um in den Park einfahren zu können. Diese Kurve entsprach noch altem Festungsdenken. Sie sollte verhindern, daß Eindringlinge ungehemmt geradeaus stürmen konnten, und war, während die Pax britannica bleiern auf Sanchor lastete, eine überraschende Reminiszenz an frühere, gefährlichere Zeiten. Dahinter dehnte sich ein mit dünnen Bäumen regelmäßig besetztes weites Feld. Jedes Bäumchen wuchs aus einem Erdhäufchen und wirkte nicht sehr lebendig: eine ausgetrocknete Plantage, die geharkt und gefegt wird, aber zuwenig Wasser erhält. Inmitten dieses sandigen Feldes erhob sich der Palast. Auf einem hohen Terrassensockel stand ein maurischer Säulchenpavillon, ein steinernes Zelt, das rechts und links von kubischen, beinahe fensterlosen toskanisch-pompeijanischen Pavillons flankiert und überragt wurde. Der Palast hätte auch in der Po-Ebene stehen können, wäre da nicht in der Ferne die Frau im roten Sari gewesen, die einen Messingeimer auf dem Kopf trug und langsam wie eine einsame Fliege über die grauen Weiten dahinzog.
Der Wagen fuhr näher. Aus dem Komplex des Mittelbaus schob sich nun der Portikus vor, der eine Freitreppe beschirmte. Von hier gelangte man auf die überdachte Terrasse, die das ganze Haus umgab. Vorfahren konnten wir allerdings nicht, denn der Portikus war von zwei altertümlichen amerikanischen Straßenkreuzern ganz ausgefüllt. Die Räder waren abmontiert, und um den reichlichen Chrom herum rostete es. Wo mochten diese Autos einst gefahren sein? In Sanchor gab es keine zwanzig Meter Straße ohne tiefes Schlagloch. Oder waren diese beiden Blechschiffe, eins rosa, das andere cremefarben, der Versuch, die für die königliche Repräsentation eigentlich erforderlichen Elephanten zu ersetzen? Nun war auch der Ersatz hinfällig geworden.
Niemand zeigte sich, während der Fahrer schweigend mein Gepäck auslud. Von nahem gesehen, bestand der Palast aus mehreren Baukörpern, zwischen denen überdachte Korridore entlangführten. Der Palast hatte kein Tor. Viele Türen öffneten sich auf die Marmorfläche, alle Rahmen waren mit rostigem Fliegendraht bespannt. Ein alter Mann mit großem roten Turban kam mit müden Schritten herbei, ergriff wort- und grußlos mein Gepäck und trug es davon.
»Welcome in Sanchor«, sagte eine weiche, schmeichelnde Stimme hinter mir.
Ein Freund des Hauses, so stellte er sich vor, der Arzt der Familie, Herr Doktor Sharma, war zu meiner Begrüßung herbeigeeilt, auf einem Motorrad, das an der Terrasse lehnte, wie ich jetzt sah. Sharma war ein kleiner, sehr gepflegter Mann mit scharfrasierten, glänzenden Wangen und verwöhntem, etwas weiblichem Fischgesicht. Auf der Terrasse stand ein Sopha. Er bat mich, Platz zu nehmen.
»Der Maharao ist hoffentlich nicht krank?« sagte ich ohne wirkliche Sorge.
»Seine Hoheit ist niemals krank«, antwortete der Arzt. »Seine Hoheit lebt mit ihrer Natur in vollkommener Übereinstimmung. Seelische Krisen, wie sie die notwendige Grundlage jeder Krankheit darstellen, kennt Seine Hoheit nicht.«
Hier hörte ich, in der geläufigen, geradezu ölgeschmierten Sprechweise des Doktor Sharma, seinem über die Steine und Kiesel der Konsonanten hinweggleitenden Zungenspiel, oder besser, hier verstand ich zum erstenmal jenen Titel, der mir zunächst so ungewohnt war und dann so vertraut werden sollte. Seine Hoheit war hier selbstverständlich auf englisch »His Highness«, von den hiesigen Sprechern aber, die zum Teil vielleicht nicht einmal genau wußten, was die rätselhaften Silben besagen sollten, zu einem neuen Wort zusammengeschmolzen worden, das so ähnlich wie »Hiseinis« klang. Niemand nannte den Maharao hier bei seinem Namen, auch die nächste Familie nicht, selbst für seinen Bruder war er Hiseinis, und sogar für sich selbst: »This is Hiseinis Sanchor«, hatte er sich am Telephon gemeldet, als ich mich ankündigte, und damals hatte ich das nie zuvor gehörte Wort für einen Namen gehalten. Ich grübelte jetzt eine Weile vergeblich darüber nach, ob er nicht eigentlich »This is My Highness« hätte sagen müssen. Als König oder gar Großkönig, was »Maharao«
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