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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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ließ sie sich herabsinken, ich konnte den kleinen Punkt auf einer der Zinnen noch deutlich erkennen.
    »Können wir weitergehen?« sagte Purhoti. »Es ist Ihnen hoffentlich klar, daß das, was Sie da eben getan haben, ausschließlich Ihnen selbst gegolten hat. Der Taube ist es gleichgültig, welches unerfreuliche Schicksal sie erleidet. Sie hat den Vorfall dort oben, wo sie jetzt sitzt, schon vergessen und sieht dem Augenblick entgegen, in dem die Falken sie zerreißen werden.«
    Und richtig, über dem Alten Fort bewegten sich in großen, stillen Kreisen viele stattliche Raubvögel, Adler, hätte ich in meiner Unbelehrtheit gesagt, der ich noch nie einen lebenden Adler gesehen hatte, aber in dem Abendazur über dem schlanken Palast wollte ich mir kein niederes Gevögel vorstellen.
    Bei meinem Eintreffen in Sanchor hatte die beflissene Höflichkeit des dichtenden Arztes mir nicht über eine wachsende Beunruhigung hinweghelfen können. Jetzt sah ich mich in Ehren empfangen. Auf der Hauptterrasse waren in meiner Abwesenheit Bambussophas und Sessel aufgestellt worden, Tischchen mit weißen Servietten kündigten an, daß Erfrischungen warteten. Ich hatte Purhoti befragt, welche Gabe dem König zur Begrüßung passenderweise überreicht werde, und Purhoti riet zu einer Blumengirlande, die wir in der Nähe eines Tempels kauften, auf einen Bindfaden gefädelte orangefarbene Targetes-Köpfe – eine mir eigentlich unangenehme Blume, die in ihrer strotzenden Vulgarität immer auch schon halbverwelkt aussieht – und in gewissen Abständen wie die Vaterunser-Perle des Rosenkranzes eine von zwei weißen Blüten eingefaßte rote Rose. Der König erschien auf seinen langen Beinen besonders groß, wie er da auf der Freitreppe stand, um uns zu empfangen. Schon als unser Wagen aus dem Portikus herauskam, sahen wir in der Ferne die schmale weiße Gestalt. Der schmutzige Diener-Greis trug einen frischgewaschenen weißen Anzug. Ihm zur Seite standen zwei weitere rotbeturbante Diener. Hätte man die aufgebockten, rostenden Straßenkreuzer aus unseren Augen geschafft, alles hätte sehr stattlich ausgesehen. Da der König die Girlande in meinen Händen bemerkte, neigte er den Kopf und ließ sie sich von mir umhängen, als spendete ich ihm ein Sakrament. Dann nahm er sie sich wieder vom Hals, hängte sie an einen aus der Säule hervorschauenden Messing-Garderobenhaken und bemerkte: »Sie lernen sehr schnell.«
    Wir setzten uns. Doktor Sharma kam aus dem Inneren des Hauses geschlendert. Ich glaubte, in Purhotis verschlossener Miene einen Funken von Mißfallen wahrzunehmen. Die Diener brachten Gläser mit dicker, eigentümlich grauer Milch, auf deren Haut goldgelbe Blütenfäden schwammen. Die Milch war heiß, ein süßes Göttergetränk. Ich verabscheue heiße Milch seit Kinderzeiten, aber ich war dankbar, daß hier keine Drinks aus indischem Gin und indischem Whisky angeboten wurden. Die Diener brachten Nüsse, und Doktor Sharma erläuterte mir, daß diese Nüsse keineswegs nur ein Imbiß seien, sondern eine spirituelle Nahrung, obwohl er daraufhin in sportlicher Manier in die ihm angebotene hotelsilberne Schale griff und sich eine Handvoll Nüsse in den Mund schüttete. Der König hingegen blickte mit seinen großen Augen auf die Schale und nahm mit seinen langen Fingern eine einzelne Nuß heraus, die er mit Ruhe sehr präzis in zwei Hälften biß. Während er die eine Hälfte zerkleinerte, hielt er die andere zwischen Daumen und Zeigefinger wie eine Perle in die Höhe.
    Durch die sandigen Weiten kamen Frauen näher, die Körbe auf den Köpfen trugen, in safrangelbe, purpurne und smaragdgrüne Saris gekleidet, mit sehr dunkler Haut, die ihre Augen und Zähne wie etwas nicht zum Körper gehörendes, wie kostbaren Elfenbeinschmuck aufleuchten ließ. Sie zogen in großem Abstand von der Terrasse an uns vorbei, aber ihre Stimmen hörte ich ein wenig später aus der Nähe, ein munteres Schwatzen und Lachen. Als ich mich während der Unterhaltung mit dem König zu entschuldigen hatte, um mein Badezimmer aufzusuchen, wurde das Schwatzen lauter. Unmittelbar unter dem Milchglasfenster des Bades saßen sie auf Stufen und Bastmatten. Es waren noch Frauen hinzugekommen, die mit in die Luft ragenden Knien dahockten und Gemüse putzten. Ein Berg von Bohnen, die so grün wie Chilischoten schimmerten, lag vor ihnen, auch weiße Zwiebeln, rötliche Kartoffelknollen, Lauchstangen und Tomaten, alles wasserbeperlt. Hast kannten die Frauen ebensowenig wie ihr

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