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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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selbst wegwerfenden und dort, wo sie gelandet ist, blumenhaft aufblühenden Hand« sprechen dürfen. Die Geste hätte bei jedem anderen geziert gewirkt, aber bei einem so hochgewachsenen, imposanten Mann gab es nichts Kleinliches. Die Männer und die Frau blickten dankbar zu ihm auf. Mir schien, diese Dankbarkeit richte sich nicht auf etwas Bestimmtes, sondern gelte ganz allgemein dem Umstand, daß es den König gab und daß er ihnen allen einen solch unvermuteten Augenblick körperlicher Begegnung schenkte.
    Es gab übrigens Zeichen dafür, daß der König uns wahrnahm. Purhoti grüßte nicht etwa aus der Ferne in die königliche Richtung oder machte sonstwie mit Winken auf sich aufmerksam, aber der König fühlte wohl einfach die Anwesenheit seines alten Meisters und sah langsam und bedeutungsvoll, aber ohne ein Zeichen des Erkennens, hinauf. Dies war jetzt nicht unsere Stunde. Aus dem Grüßen und Wegwerfen der Hand heraus tat er, nach einer Weile des Plauderns, langsame Schritte auf seinen Jeep zu. Er wandte sich nicht um, bestieg ihn in Ruhe, wobei er den Kopf tief neigen mußte, und wandte sich dann aus dem Wagen heraus noch einmal zu der Gruppe, die die Abfahrt mit leichten Verneigungen begleitete.
    »Seine Hoheit hat lange warten müssen, bis sie den Thron besteigen durfte«, sagte Purhoti, »Seine Hoheit war siebenundfünfzig, als ihr Vater Maharao Haripal Singh starb. Das Königsamt muß seiner Natur nach auf viele und sehr unterschiedliche Charaktere passen. Man könnte geradezu sagen, daß mit der entsprechenden Führung und Erziehung jedermann König und ein guter König sein könnte, was von den demokratischen Ämtern nicht zu sagen wäre. Und dennoch wäre es bedauerlich gewesen, wenn Seine Hoheit nicht auf den Thron gelangt wäre. Sie hat sich mit nichts anderem befaßt, als sich auf dieses Amt vorzubereiten; wäre sie nicht König geworden, wäre ihr Leben in noch viel höherem Maße Fragment geblieben, als es jedes Leben ohnehin und notwendigerweise ist. Und dabei hat sie in all den Jahren niemals das leiseste Zeichen der Ungeduld gezeigt, auch als es später und später zu werden begann. Wenn der verstorbene Maharao einen Untertanen hatte, der aufrichtig für sein langes Leben betete, dann war es sein ältester Sohn.«
    Wir wandelten langsam über den großen Hof auf das Tor in der Festungsmauer zu. Draußen in dem cremefarbenen, dicken Staub, der feiner als Sand das freie Feld zwischen Festung und Stadt eingepudert hatte, knieten zwei Jungen mit geschorenen Köpfen und nackten Füßen und waren mit einer diffizilen Arbeit beschäftigt. Der eine hielt eine lebende Taube fest, und der andere hatte einen ihrer Flügel gespreizt und wand einen weichen Kupferdraht zwischen dessen Federn hindurch, wie Blumenhändler, lange Blütenstiele mit Draht abstützen. Die Taube lag auf dem Rücken und sah mit ihren ausdruckslosen Vogelaugen, die auf mich allerdings erstarrt wie in Panik wirkten, dieser Operation zu, deren Sinn sie ebensowenig verstand wie ich. Was die Jungen mit ihr vorhatten, mußte etwas Grausames sein. Sie selbst würde sich von diesem Draht in ihrem Gefieder nie befreien können. Sollte sie in ein lebendiges Spielzeug verwandelt werden, das in seiner bösartig herbeigeführten Unbeholfenheit etwas von der mechanischen Unvollkommenheit primitiver Aufziehspielsachen hatte?
    Purhoti sah den Kindern teilnahmslos zu. So schmutzig und zerlumpt, waren sie gewiß nicht seine Schüler. Ich sah mich als den Retter der Taube, als den Engel, der ihr in der Stunde höchster Not gesandt war. Die Jungen blickten mich neugierig an. Ich hielt ihnen einen kleinen Geldschein hin. Sie brauchten eine Weile, bis sie verstanden, daß diese Taube, die sie zugrunde richten wollten, einen solchen Wert besitzen sollte. Sie lachten. Es war eine Mischung aus Spott über mich und Dankbarkeit für das Lebensglück, das ihnen unversehens solch reiche Beute bescherte. Während sie die Taube noch festhielten, zog ich behutsam den Draht aus ihrem Gefieder. Es schien mir, als sei trotz der Mißhandlung nichts gebrochen oder geknickt. Ich ergriff die Brust der Taube mit beiden Händen. Sie bewegte ihren Kopf, als sei er abschraubbar, wehrte sich aber nicht. Die Flügel ließ sie hängen, sie hatte erfahren, daß in den Händen solcher Wesen Gegenwehr sinnlos war. Nun hob ich sie über meinen Kopf und ließ sie los. Sie flatterte und flog davon. Ohne Mühe gewann sie beträchtliche Höhe. Erst über den Zinnen der Festungsmauer

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