Das Beben
schaumig geworden und zugleich rosig-blutig geblieben war. Auf dem Teller des Königs lagen große rote Blüten von einem Dornbusch, der jetzt seinen Frühling erlebte. Von den Speisen nahm er nichts, denn einer der vielen Fasttage, die er einzuhalten pflegte, hatte soeben begonnen.
3.
Es fehlen nur achthundert Jahre
Am nächsten Morgen sollte Purhoti mich ins Staatsatelier führen, aber ich war überzeugt, daß er meinen Besuch dort mißbilligte. Während seines ganzen Lebens waren Europäer in Sanchor aufgetreten, die vorgegeben hatten, den König zu beraten, und es war selten etwas Gutes dabei herausgekommen. Der Großvater unseres Königs war ein Puritaner, der sich nach Zeugung seines Erben von der Königin zurückgezogen hatte und von dem das Verbot stammte, daß Frauen nackt vor dem König badeten; das mochte vor allem die zu Repräsentationszwecken gehaltenen Nebenfrauen und Kurtisanen des Monarchen betroffen haben. Er bestand auch darauf, den ganzen Palast jedesmal, wenn ihn ein Weißer betreten hatte, mit Ganges-Wasser abzuwaschen. Zu diesem Zwecke standen noch mannshohe Messingvasen, bauchig wie Kugeln, in der Halle, aber die Spinnweben über ihrer Öffnung verrieten, daß aus ihnen schon länger nicht geschöpft worden war. Die Reinigungszeremonien erforderten einen großen Aufwand, und es kam die Zeit, in der die Besuche von Herrschaften mit Tropenhelmen, begleitet von Frauen mit Spitzen-Sonnenschirmen, sich derart häuften, daß der Palast kaum mehr hätte bewohnt werden können, weil die sakralen Ablutionen nicht abrissen. Es war dann am Fuße des Hügels ein Gästehaus für Europäer gebaut worden, ausgestattet mit Billardtisch und Klavier und dem allerunnötigsten Luxus einer Badewanne.
»Jahrtausende hat man sein Bad genommen, indem man sich, auf einem Hocker sitzend, mit Wasser aus einem Eimer übergoß«, sagte Purhoti mit dem immergleichen abwesenden Gesichtsausdruck, und in dem Gästehaus war der neumodische Badezauber nun auch längst wieder vorbei, die Fenster des Hauses waren eingeschlagen oder blind, die Möbel samt Billard und Klavier verschwunden.
»Sie sind weggenommen worden«, sagte Purhoti, und das konnte heißen: verkauft, gestohlen oder in Luft aufgelöst. Inzwischen mußte der Palast ertragen, daß Europäer sich in ihm bewegten. Viele waren es nicht, aber Purhoti lehnte es ab, darüber zu sprechen, welche Folgen solche ungeordneten Verunreinigungen für das königliche Haus und den Staat von Sanchor nach sich zogen. Sanchor war in einen neuen Zustand seiner Geschichte getreten. Das Königreich war jetzt Landkreis eines unermeßlich großen Bundesstaates Rajastan. Staatsrechtlich gab es keinen State of Sanchor mehr, aber es war nichts Rechtes an seine Stelle getreten. Die Geschichte des Landes schien ratlos, was sie tun solle, um ihren Auftrag zu erfüllen, nämlich weiterzugehen. Nachdem die königlichen Standarten eingeholt worden waren, hielt sie inne. Die Geschichte war einfach zu verdutzt, um weiter am Schicksal Sanchors zu häkeln. Und während sie untätig zusah, wurde das Land immer blasser und versank in eine Form von Nichtsein.
Als erstes verschwanden die Wälder.
»In meiner Jugend war ganz Sanchor ein einziger, an vielen Stellen undurchdringlicher Wald«, sagte Purhoti. »Abends sahen wir von unserer Dachterrasse aus die Tiger auf dem höchsten Grat des Berges unter den Strahlen des Mondes auf die Jagd gehen. Schwärme von Pfauen landeten kreischend in unseren Gärten. Jetzt ist Sanchor eine Wüste. Die Bauern und die wilden Stämme haben die Bäume selber umgehauen, aber das haben sie vergessen, und sie glauben einem nicht, daß hier einmal Wald war. Ein Wald ist allerdings etwas anderes als ein Baum, den man fällt, weil man Suppe kochen will.« In einer späteren Epoche werde man möglicherweise dem König zu seinen vielen Ehrentiteln einen weiteren, den vielleicht größten zuerkennen: Schützer der Wälder. Ich gab ihm recht, das gelte auch für die europäischen Könige, auch die europäischen Könige seien in der Vorstellung der Völker mit den Wäldern verbunden. Die Mittelmeerlandschaft sei von den Republiken abgeholzt worden, von der athenischen und der venezianischen oder den gesichtslosen Großreichen der Römer und Türken. Aber über Europa wollte Purhoti nicht wirklich etwas hören. Vielleicht war es auch der Plural des Wortes König, der ihm mißfiel. Als geborener Diener des Maharao und Sohn und Enkel von Dienern seiner Vorgänger konnte es nur
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