Das Beben
einen einzigen König geben.
Das Staatsarchiv war ein Saal im Seitenflügel des Palastes, mit hohen Fenstern hinter geschlossenen Läden. An der Decke sah man Eisenträger, die mit kleinen Gewölben verbunden waren, in Europa hatte man die gründerzeitlichen Fabriken so gebaut. Auch die weißlackierten Schränke mit Fliegengittertüren, die den Raum in mehreren Reihen unterteilten, hatten etwas Fabrikmäßiges, wie Umkleidespinde, aber hier lagen die Akten des Reiches. Ein dicker Stoß von Büchern und Heften war jeweils in ein weißes Tuch eingeschlagen, das oben zweifach verknotet war. Diese weißen Servietten gaben den Papierstapeln das Aussehen von Picknickvorräten. Purhoti besaß einen Schlüsselbund. Ohne Eile suchte er, indem er die Schlüsselbärte studierte, den jeweils passenden Schlüssel heraus. Er irrte sich nie. Purhoti war langsam, aber von vollendeter Ökonomie. Er erlebte vermutlich keinen einzigen Augenblick, in dem sein Geist nicht ruhig auf das Erkennen der Lage gerichtet war.
»Was wünschen Sie zu sehen?«
Seine Frage allein war ein Tadel. Er sprach damit zugleich aus, daß ich ehrlicherweise hätte zugeben müssen, nicht zu wissen, was hier sehenswert sein könne. Was wußte ich über Sanchor? War ich Staatsökonom oder Historiker? Was ging mich die Rechnungslegung des Finanzministeriums von Sanchor an? Mein Schweigen erkannte er hoffentlich als Zeichen gebotener Bescheidenheit. Er ergriff ein weißes Stoffbündel und brachte es zu einem Tisch, dessen Platte mit einem blau verblichenen Löschpapier bedeckt war. Ein schmales Heft aus Büttenpapier mit handgeschriebenen Texten lag obenauf.
»Das sind die Hochzeitsgedichte von 1827«, sagte Purhoti und sah mich an, als wolle er sagen: »Sie wissen nicht, von welcher Hochzeit, Sie sprechen kein Hindi, Sie ahnen nicht, ob diese Gedichte gut oder schlecht sind, Sie wissen nicht, in welcher Weise man sie vortrug, und der Autorenname sagt Ihnen am allerwenigsten.«
Es folgten Abrechnungen für das Futter der Elephanten – »Vor jedem Tor des Palastes standen zwei Elephanten, die letzten wurden 1962 abgezogen« –, Rechnungen für Porzellanteller aus Manchester, Gerichtsakten.
»Auch unter den Engländern hatte der König die Halsgerichtsbarkeit. In Sanchor entschied allein er, wer aufgehängt wurde. Mein Vater hat ihn dabei allerdings beraten.« Berater entstammten Dynastien wie die Könige. Sie waren ebensowenig austauschbar wie die Könige, mit den Geschlechtern der Könige marschierten die Geschlechter der Berater durch die Zeiten. Nun standen sie nebeneinander, der König und sein Berater, beide ins einundzwanzigste Jahrhundert geraten, die Klammer, die sie zusammengehalten hatte, war von ihnen abgefallen, aber noch hatten sie keinen ganzen Schritt voneinander weggetan, einen halben nur vielleicht.
Während Purhoti die Seiten der schön in marmoriertes Papier gebundenen, mit Archivnummern auf dem Rücken versehenen Bände umwandte, veränderte er sich. Seine kühle Teilnahmslosigkeit war verschwunden. Ich sah, wie das Papier ihn körperlich anzog. Seine trockenen, sehr hellhäutigen schlanken Hände mit bläulich reinen Nägeln legten sich auf das alte Papier, so fest und behutsam wie die Hand eines alten Arztes auf einen jugendlichen Körper, den er abklopft. Purhoti war für das Papier, das Papier war für ihn geschaffen. Jeder mit der Stahlfeder gemachte saubere Eintrag in den Rechnungsbüchern sprach zu ihm, als hätte er selbst ihn gemacht. Er wußte nicht nur, was ein Elephant den Staat von Sanchor gekostet hatte, er wußte auch, was die Gegenwart eines Elephanten für Sanchor bedeutete. Und er glaubte daran, daß alle diese längst vergangenen Rechnungsposten für englische Jagdwaffen und Grammophone, für den Schmuck der Tänzerinnen, für die Speisung der Arbeiter, die den Neuen Palast aufmauerten, und für die Polo-Pferde in Form von beschriebenem Papier ihre eigentliche und höchste Daseinsform erreicht hätten. Das von Menschenhand beschriebene Papier war die Wirklichkeit, der er selbst angehörte. Er war der dem Papier zugeordnete Mensch. In vielen Generationen hatten seine Vorväter, die an der Schwelle des Thronsaals gesessen hatten, jedes dort gefallene Wort in Papier verwandelt, und nun waren kalligraphisch geschriebene Zahlen und Wörter für ihn geworden, was aus der Wirklichkeit werden kann, nachdem sie durch ein bedeutendes Gehirn gewandert ist. Nicht unbedingt haltbarer geworden, nebenbei. Nur die Gedichte standen
Weitere Kostenlose Bücher