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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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auf dickem, fasrigem Papier, die Gerichtsakten und die Rechnungsbücher waren jetzt schon vergilbt und würden in ihrer Holzhaltigkeit irgendwann zerfallen. Könnte man dieses Archiv nicht zuvor elektronisch erfassen?
    »Wozu?« fragte Purhoti. »Erstens verlängert das seine Lebensdauer nur um ein paar Jahrzehnte, bis auch die elektronische Information sich verflüchtigt hat, und außerdem ist dies Archiv nicht besonders interessant. Es reicht nur bis in die letzten zweihundert Jahre.«
    Und wo lag der Bestand der Jahrhunderte davor?
    »Der ist zerstört, verbrannt und zerstreut. Die Königreiche huldigten vor dem Eintreffen der Engländer dem agonalen Prinzip. Man führte ständig Krieg – gegen die Moguln, solange sie stark waren, das war besonders gefährlich, aber auch gegen alle andern Nachbarn. Sanchor ist seit der ersten islamischen Eroberung vor tausend Jahren mehrfach ganz abgebrannt. Den Höhepunkt der Macht erreichte die Familie Seiner Hoheit ohnehin vor dieser Eroberung, als sie den letzten Hindu-Kaiser stellte. Zweihundert Jahre davor hatte mein Vorfahre, der Brahmane Vasisht, die Familie konsekriert.«
    Purhoti beanspruchte, ein Nachkomme des legendären Vasisht zu sein, dieses Samuel und Solon und Remigius Indiens. Zu dem im Bergwalddickicht gelegenen einsamen Tempel, wo sich der Agnikund, der Feuerherd, befunden hatte, mit dessen Flammen Vasisht die aus dem Norden gekommenen skythischen Erobererhäuptlinge von der Schande ihrer Kastenlosigkeit befreit und sie der Kriegerkaste eingegliedert hatte, würde ich später mit Virah wandern. Der Tempel hieß Gau Mukh, Kuhmaul, weil an der Stelle des Agnikund nun ein Tempel-Tank lag, in dem das Wasser in dünnem Strahl aus einem Marmor-Kuhmaul tröpfelte.
    »Im Jahr 800 krönte in Rom der Papst den Frankenhäuptling Karl zum Kaiser«, sagte ich mehr zu mir selbst, als bestätige dies Faktum Purhotis Anspruch. Seine Miene zeigte mir, daß der Vergleich des Brahmanen Vasisht mit einem fernen Papst eine Dreistigkeit darstellte, die nur mit dem Nichtwissen des Barbaren zu entschuldigen war. Das ging mir hier beständig so. Ich wollte die Würde und Größe der mir geschilderten Ereignisse überhaupt nicht schmälern, indem ich sie mit europäischen Vorkommnissen in Verbindung brachte, ich war im Gegenteil immer froh, wenn ich solche Parallelitäten entdeckte, die mir die indischen Eigenheiten verständlicher machten und sie mir wahrscheinlicher vorkommen ließen, aber ich stieß mit meinem beflissenen Herbeitragen von Eigenem nie auf Gegenliebe oder wenigstens Neugier. Es war für mich in meiner Betrachtung des Königs von Sanchor entscheidend, daß er in der Reihe jener Könige stand, die von heiligen Königsmachern in ihr Amt eingesetzt waren. Dies Eingesetztsein von einem Eremiten, Heiligen, Propheten, einer Jungfrau von Orléans erschien mir überhaupt als das wesentliche Legitimationsmerkmal der Monarchie – daß Königtum etwas war, was man nicht anstreben konnte, sondern das von einer Institution fern von aller Macht gestiftet werden mußte, woraus auch folgte, daß es niemals eine politische Restauration ohne eine über jeden Zweifel erhabene Stifterfigur geben konnte. Aber eine andere Frage traute ich mich auszusprechen. Im Jahre 800 sei das Flammenritual am Agnikund von Gau Mukh vollzogen worden – Purhoti nickte, indem eine Geduld auf seinen Zügen lag, die bereit war, die größte Torheit aufzuklären –, und wenn man auf das Jahrhundert grob geschätzt drei Generationen rechne, dann herrsche das Haus von Sanchor nunmehr seit sechsunddreißig Generationen – Purhoti nickte wiederum, er war nicht kleinlich, nur genau, und sagte beiläufig ohne Schulmeisterei: »Seit siebenundvierzig Generationen. Manche Könige starben als Kinder.«
    Gut, seit siebenundvierzig Generationen, eine für Europäer schier schwindelerregende Zahl.
    »Danach können Sie nicht gehen«, sagte Purhoti, »für Amerikaner klingt sie noch unwahrscheinlicher.« War diesmal ein winziges Lächeln in seinen Augen zu sehen? Nun, von Freundlichkeit zu Heiterkeit ist es manchmal ein kleiner Schritt. Ich mochte mich in meiner nervösen Suche nach einem Zeichen der Verbindlichkeit getäuscht haben.
    Nun habe Seine Hoheit aber beiläufig bemerkt, daß sein Haus seit dreihundert Generationen regiere. Das sprach ich sehr vorsichtig aus. Ich wollte jeden Anschein, Widersprüche entdeckt zu haben, vermeiden. Ich war der Schüler, dem selbst das Evidente ein Rätsel ist, bis ihm der Lehrer

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