Das Beben
die Augen öffnet.
»Dreihundert Generationen, ja natürlich«, sagte Purhoti. Es seien diese Skythen schließlich nicht aus dem Nichts gekommen, als Vasisht sie in das Feuerbad getaucht und zu wirklichen indischen Königen gemacht habe. Für eine solche Taufe suche man sich geeignete Personen aus, nicht dahergelaufene Hirtenknaben. »Und tatsächlich war David auch nicht nur einfach Hirte, sondern außerdem aus der richtigen Familie«, warf ich ein, als hätte ich vergessen, daß Purhoti solche Vergleiche nicht mochte.
Mir seien doch gewiß die Königreiche der Griechen in Baktrien und am Indus ein Begriff, fuhr er ungerührt fort. Bucephala, ein Reich, das nach dem Roß Alexanders des Großen benannt gewesen sei, östlich des Jhellum-Flusses gelegen, Paropamisadae und Arachosia, nur um einige zu nennen, seien von den Vorfahren Seiner Hoheit beherrscht worden. Man wisse darüber inzwischen gut Bescheid und habe die Genealogie im Griff. Einhundertfünfzig vor Christus wurde Eucratides I. König, Münzen zeigten ihn, wie die Tyche ihn kröne. – »Was war die Tyche noch bei Ihnen?«
»Das Schicksal, auch der Zufall.«
Nun, auch der Zufall mochte einmal Königsmacher sein, wenngleich er gewiß keine dauerhafte Dynastie schuf. Die Söhne und Enkel eines Zufallsgekrönten mußten für die Sicherheit ihrer Krone auf neue Zufälle vertrauen. EucratidesI. habe keine Krone getragen, sondern ein Diadem, sagte Purhoti. Auf der Kupfermünze, die ein Mister Jenkins ihm gezeigt habe, ähnele er unbestreitbar Seiner Hoheit. Mister Jenkins habe eine große Sammlung indo-griechischer Münzen mit den Porträts der Vorfahren Seiner Hoheit hier ans Staatsarchiv von Sanchor verkaufen wollen. Leider sei der Ankauf nicht zustande gekommen. Bei dieser Bemerkung war seine Miene derart verschlossen, daß sich jede Nachfrage verbot. Sie war auch überflüssig. Daß Purhoti nicht bekennen wollte, sein königlicher Herr habe die Sammlung nicht bezahlen können, war ihm hoch anzurechnen. Ich liebe Bekundungen der Loyalität, sie sind so selten. Purhoti mit seiner Brahmanen-Weisheit hätte es vermutlich etwas anders ausgedrückt: Nachteilige Umstände müssen nicht bekanntgemacht werden, denn sie sind bereits überall bekannt.
Ich hatte hellenistische Münzen mit ihren stark vereinfachten Reliefporträts gesehen. Das griechische Schönheitsideal war auf ihnen noch deutlich zu erahnen, die niedrige, gerade Stirn, das dicklockige Haar, die gerade Nase, die ohne Sattel unmittelbar aus der Stirn hervorgeht, die großen Augen, die unter der Nase gleichsam gelockte runde Oberlippe, aber all diese Voraussetzungen der Schönheit, die in den Proportionen zueinander eigentlich genau ausgerechnet zu sein hatten, drängelten sich auf kleinstem Raum. Die Locken, die Augen, die Riesennase, die mit der Stirn verwachsen ist, das alles war ins Gartenzwergmäßige zusammengestaucht, zu einer Karikatur der Schönheit. Ich habe mich manchmal gefragt, wie es wohl wirke, wenn das idealgriechische Schönheitsgesicht einmal bei einem realen Menschen vorkomme. Ob diese sattellose Nase dann wirklich immer noch schön sei? Oder ob sie nicht wie eine Klammer vor der Stirn säße, ob eine solche griechische Nase das Gesicht besonders intelligent erscheinen ließe oder nicht doch vernagelt und blockiert? Der König hatte einen schönen, aber gemessen an seiner Körpergröße kleinen Kopf mit gerader Stirn und gerader stumpfer Nase. Das bräunlich Olivfarbene seiner Haut hatte mich daran gehindert, bei ihm an die griechische Kunst zu denken, die uns, gegen jedes bessere Wissen, immer noch als etwas Weißes vor Augen steht. Ich gab Purhoti recht, ohne die Münze, die er beschrieb, zu kennen: Wie Eucratides I. auf seiner numismatischen Miniatur mochte der König schon aussehen.
»Eucratides I. war ein genialer Politiker«, sagte Purhoti, »nachdem der Zufall ihm das Diadem auf die Locken gedrückt hatte, begann er ein raffiniertes Spiel mit Baktrien und den Parthern. Er heiratete eine Prinzessin von Taxila, auch aus einem solchen griechischen Reich, hatte aber auch südindische Damen in seinem Harem. Seine Söhne Pantaleon und Agathocles kämpften um den Thron und verbannten sich gegenseitig. Agathocles war Literaturliebhaber und ließ in seiner Hauptstadt Bucephala am Indus die Werke des Aristophanes aufführen. Die Schauspieler kamen aus Kleinasien und gingen nach zwei Jahren am Fieber zugrunde, danach stürzte Agathocles, Pantaleon eroberte die Stadt und nahm zugleich
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