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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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sich gegen Schläge wappnen, und ging mit krummem Buckel, den Kopf von seinem Riesenturban niedergebeugt, hinaus. Ich wußte seit gestern abend, daß dieser Diener zum Stamm der Devasi gehörte, einem Kuhhirtenvolk, das von jeder höheren Haushaltsführung, wie sie dieser europäisierte Palast verlangte, um Jahrtausende entfernt war, dafür aber in unverbrüchlicher Treue zum angestammten Herrscher hielt, der die Devasi-Sprache nicht beherrschte, sich aber jetzt, da er von so vielen Subsidien abgeschnitten war, auf die Devasi stützte, die ergebene Diener in seine Häuser sandten. Nur kam es nie zu Ausbildung oder Einarbeitung dieser Diener, denn nach einigen Wochen sehnten sich die Männer nach ihren Frauen und Kuhherden und mußten ausgetauscht werden. Der letzte Haushofmeister Seiner Hoheit hatte es sich geleistet, sämtliche Tee- und Kaffeetassen ungespült in die Schränke zurückzustellen. Da es viele Tassen gab, fiel sein Verfahren erst nach einer Weile auf. Die Zuckerreste in den Tassen hatten die grauen Eichhörnchen angelockt, denen es gelungen war, die Schranktüren zu öffnen oder sich durch Ritzen in die Geschirrschränke zu zwängen. Wenige Tassen waren heil geblieben. Die Eichhörnchen glaubten wohl, die Tassen wie Nüsse zerbrechen zu müssen, um an das Süße heranzukommen. Das edwardianische Bone-China des Neuen Palastes – die Tassen hatten die Form kleiner Nachttöpfe, und auch die Blütenmuster darauf erinnerten an Sanitärkeramik – war nun dahin, und der König, der wußte, daß solche Verluste klaglos und achtlos hinzunehmen waren, versagte sich dennoch nicht, daran zu erinnern, daß seine Eltern diese Tassen geschätzt hatten. Er blieb Gegenständen aus England gegenüber immer zwiespältig gestimmt.
    Der Tee war lauwarm, aber ich war froh, etwas zu trinken. Auf dem Bett ausgestreckt, blickte ich durch den Holzrahmen über mir, der im Sommer durch die Moskitonetze geschlossen wurde, auf die turmhohe Zimmerdecke.
    Daß in dem schwarzen Stoffhaufen eben ein Mensch gesteckt hatte, wenngleich ein kleiner und zerbrechlicher, ließ mich nicht los. In den orientalischen Märchen ist gelegentlich von übergroßen Vögeln die Rede, beginnend mit dem schreckenerregenden Vogel Roch, den ich mir als riesenhafte Flugechse vorstellte, also als etwas letztlich nicht Unmögliches. Ich dachte an den im Innern des Palastes verborgenen Innenhof, der den beiden Frauen als Heimstatt diente, der fliegenumschwärmten Greisin und der traurigen Wandlerin zwischen Tischchen und Portiere. War dieser tote und bedrückende Innenhof mit seinen gestauchten Prunksäulen irgendwann einmal ein freundlicher, gar üppiger Aufenthalt gewesen?
    Wenn aus dem Brunnen Fontänen aus parfümiertem, rosigem Wasser aufstiegen, in den Becken Blütenblätter schwammen, Teppiche ringsum ausgebreitet waren, Kissenberge Lagerstätten bildeten, Räuchergefäße dünne Schwaden von Weihrauch aufsteigen und bunte Laternen sanft schwankende Rankenmuster aus Licht und Schatten über die Mauern gleiten ließen, war dieser Hof ein Paradies, und Paradies heißt Garten. Auch ohne eine einzige Pflanze hätte der Hof, wenn er derart hergerichtet worden wäre, den Anspruch erworben, Garten genannt zu werden. Es war für mich plötzlich ganz leicht, diesen erstorbenen Palast in meiner Vorstellung zum Leben zu erwecken. Vielleicht trugen auch die beiden alten Frauen im Innenhof dazu bei, denn ich hatte weder im Alten Fort noch hier im Neuen Palast bisher auch nur die Spur einer Frau gesehen und schon gar nicht die Stimmung empfunden, die weibliche Wesen um sich verbreiten. Die Ordnung, die ich hier vorfand, war unpoetisch und männlich, etwas zwischen Kaserne und Kloster. Wer war die ruhelose, stumme Frau in ihrem abgeschiedenen Salon? Wurde sie dort verborgen gehalten? Auf jeden Fall verzichtete sie darauf, dem Palast das Gepräge ihrer Anwesenheit zu geben. War die Frau vielleicht nicht ganz gesund? Ihr Auf- und Abgehen hatte etwas von jener Sprungfeder in alten mechanischen Uhrwerken, die »Unruhe« genannt wird. Mir war jetzt, als sei die Zimmerdecke, auf die ich starrte, zu einem schmalen blauen Rechteck geworden, dem Himmelsausschnitt des Innenhofs. Und jetzt verdunkelte sich dieses Rechteck. Große bewegte Schatten fielen herein.
    Geier mit ihren weit ausgebreiteten Flügeln segelten darüber hinweg, sanken langsam herab und setzten sich auf den Dachfirst. Sie hatten breite Schultern und abstoßend nackte Köpfe. Die Geier blickten in den Hof wie

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