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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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oder mich zum König zu rufen, aber die Stunden vergingen, ohne daß ich auch nur einen Laut gehört hätte. Neben der Tür entdeckte ich dann ein breites besticktes Band mit einer Quaste, einen Klingelzug, und als ich entschlossen daran zog, bewegte sich oben, wo das Band befestigt war, tatsächlich auch ein metallischer Bügel, der das Band beim Loslassen wieder zurückschnellen ließ. Schepperte nun weit entfernt in einem abgelegenen Dienstbotenquartier eine laute Schelle? Wenn sie das tat, so folgte ihr niemand.
    Ich öffnete das Fliegengittertor und sah auf die glänzenden Marmorintarsien der Veranda. Unter dem Portikus standen in symbolischer Bereitschaft zu fürstlicher Ausfahrt die beiden aufgebockten Chevrolets. Nur der Jeep des Königs mit der kleinen Standarte war verschwunden, und wohin ich auch blickte, es lehnte nirgends einer der mir inzwischen vertrauten Turbanmänner an den Säulen, jenem zeitlosen Warten hingegeben, mit dem sie dem Palast, wenn nichts sonst darin geschah, von ihrem eigenen Leben etwas abtraten. Ich fühlte mich nicht berechtigt zu rufen und fürchtete geradezu, in diesen äußeren Hallen unbedarft lärmend aufzufallen. Immerhin klatschte ich in die Hände. Das Echo trug weit unter den hohen Decken, von denen die Ventilatoren unbewegt herabhingen. Das Schiffsartige des Hauses trat mehr denn je hervor, mir war sogar nach Luftschiff zumute bei der Vorstellung, die Ventilatoren drehten sich und höben den Palast langsam in die Luft zu einem unsicheren, schwerfälligen Pfauenflug.
    Man befand sich in diesem Bau immer zugleich drinnen und draußen. Die breiten Korridore, die auf die festliche, überdachte Hauptterrasse führten, waren von keinen Toren begrenzt. Dies Haus bot dem Unbefugten kein Hindernis. Wer den Park betreten hatte, konnte auch in das Innerste des Hauses gelangen, wenn er es wagte, seinen Schritt dorthin zu lenken.
    Die Hemmnisse waren wohl unsichtbarer Natur. Der Tempel der Juden auf ihrer Wüstenwanderschaft war gleichfalls nur ein Zelt in einem großen abgesteckten Bezirk, aber ich stelle mir vor, daß dies Zelt sich gleichsam selbst schützte, daß die Füße schwer wurden, je näher man dem Heiligtum kam. So war auch der Palast im Grunde ein Zelt, oder besser ein Zeltlager. Je näher man ihm kam, desto mehr löste er sich in einzelne, nur durch überdachte Wandelgänge verbundene Gebäude auf. Der König, so viel wußte ich, schlief nicht im Zentrum dieses Palastes, wie es der Dramaturgie dieser Architektur eigentlich entsprochen hätte, sondern in einem dem meinen gegenüberliegenden turmhohen Pavillon auf der anderen Seite des Hauses, als wolle er deutlich machen, daß er nirgendwo mehr majestätisch residiere, sondern als sei nach dem politischen Ende seines Staates nun ganz Sanchor königliche Residenz und empfange durch die königliche Ubiquität in allen Provinzen des Reiches weiterhin jene Lebenskraft, die vorher aus der Eigenständigkeit floß. Er war jetzt überall in Sanchor zu Hause. Jeder Flecken und Weiler sah den König und seinen Jeep, dessen Standarte meist abgeschraubt war, um die republikanischen Behörden nicht zu reizen. Anstelle der Standarte trug die kleine Metallstange auf dem Kühler eine rote Kunststoffhülse, die das Fehlen der starren kleinen Fahne deutlich wie ein erhobener Zeigefinger betonte: »Aufgepaßt, dies ist der König«, sagte das rote, aufgerichtete Kunstlederetui auf dem Kühler.
    Deswegen war das Innere des Palastes aber nicht weniger heilig, so schien mir. Ein leerer Thron entfaltet einen Sog. Irgendjemand wird sich schließlich auf ihn setzen. Ich drang langsam vor. Der Korridor wurde dämmriger. Der Blick zurück zeigte den Wüstenpark nur noch als kleinen Ausschnitt. Die Türen rechts und links waren wieder mit Fliegendraht bespannt, die Räume dahinter erschienen dunkel. Ich öffnete eine Tür. Sie quietschte so laut, daß ich sicher war, es werde nun jemand herbeilaufen.
    Der Salon, den ich betrat, war wieder mit schweren Sesseln im Stil der dreißiger Jahre eingerichtet, die etwas Lokomotivmäßiges an sich hatten, als seien stählerne Kolben in ihren hochgewölbten Seitenlehnen verborgen. Ein Kronleuchter mit zerrissenen Kristallketten hing aus großer Höhe herab. Ein Wandschrank enthielt schwarz gebundene Pappbände, vor allem statistische Werke aus der Zeit der englischen Herrschaft. In einem angrenzenden Saal hatte sich eine Schar Sophas zusammengefunden, geschweifte und geschnitzte Prachtmöbel aus falschem

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