Das Beben
Lücken anzuerkennen vermochte, und sei es auch nur das Fehlen des Fliegengitters. Er war kein Chauvinist. Wenn es im Ausland und selbst im verhaßten England etwas Gutes gab, wollte er der erste sein, der das einräumte. Auch das war königlich, die Grenzen des Reiches zu kennen – wie anders hätte man sie sonst schützen können?
Schon bei der Hinfahrt im offenen Wagen hatte der König vor Kälte gezittert. Der Vetter hatte in dem hohen Stuckkamin mit der kleinen Feuerstelle einheizen lassen, aber der Speisesaal war davon nicht spürbar wärmer geworden. Warum hatte der König nicht nachts um zwei nach dem zähneklappernd eingenommenen Essen die Einladung des Vetters angenommen, im Haus zu übernachten?
»Es hätte keiner Einladung bedurft«, bemerkte er, wiederum in Parenthese, »in Sanchor verfüge ich über jedes Haus.« Als Baumeister seiner Erzählungen war er das genaue Gegenteil eines Bungalow-Architekten. Da reihten sich die Ereignisse nicht wie die Bungalow-Zimmer hintereinander, sondern sie bildeten Sternkristalle. Um das Zentrum der Ereignisse schlossen sich überall Subkristalle an, die in einer eigenen Richtung weiterwuchsen.
Der Fahrer schlief inzwischen in der Halle auf dem Boden, wurde geweckt, der Jeep fuhr vor, und der König verneigte sich liebenswürdig mit gefalteten Händen vor seinem Gastgeber. Ich wußte, wie sehr er Aufbrüche und Nachtfahrten liebte. Keine Vorstellungen hätten ihn bewegen können, das Gästezimmer zu beziehen, in dem sein Schlaf von einem weiteren lebensgroßen Porträt seines Großvaters bewacht worden wäre, ausgeführt von dem bewußten gewalttätigen, in seiner Kunst aber so zahmen russischen Maler.
Er vermutete, in dem schüttelnden Jeep trotz kalten Fahrtwindes eingeschlafen zu sein. Der Fahrer gab Gas. Er wollte vorankommen. Der Wagen rollte in einer von ihm selbst erzeugten gelben Staubwolke, die das Licht der Scheinwerfer reflektierte. Es war hell vor der Windschutzscheibe, und zugleich sah man nichts. Mitten in rasender Fahrt, sicher fünfzig Stundenkilometer schnell, tat es einen Schlag, der den Wagen beinahe zerriß. Er überschlug sich. Der König flog in hohem Bogen fünf Meter weit in ein Weizenfeld. Der Fahrer hatte sich an sein Lenkrad geklammert. Er war in seinen inneren Organen so verletzt, daß er kurz nach dem Aufprall starb. Bei Tageslicht stellte man fest, daß ein tiefes Loch die Straße geteilt hatte, ob von den Bauern des benachbarten, unter der Dürre leidenden Dorfes in der Absicht gegraben, Vorbeifahrenden eine Falle zu stellen, blieb ungeklärt. Es hätten dann eigentlich auch im Gesträuch verborgene Plünderer zum Vorschein kommen müssen. Oder hatte die königliche Standarte sie verjagt? Der Fahrer jedenfalls wurde erst am anderen Morgen gefunden. Der König aber lag auf dem Rücken im Weizenfeld.
Wie lang nach dem Unfall schlug er die Augen auf? Es war vollkommen dunkel, und es war bitterkalt. Er bewegte sich nicht und sah nur in den Himmel, als sehe er ihn zum erstenmal. Und gewiß zum erstenmal so mühelos. Im Liegen gab es kein Kopfzurückwerfen, das Studium bot sich an. Keinen Augenblick fragte er sich, warum er hier in den Himmel schaue. Das Abendessen mit dem Vetter und die Fahrt durch die Nacht waren vergessen. Vergessen war auch der Fahrer. Es war ein fragloses Hier und Jetzt, in dem er sich befand. Er fühlte kein Bedürfnis, sich zu bewegen, auch die Kälte fühlte er nicht. Dafür tat sich über ihm der Himmel auf, ohne Mond, aber dafür in der durch keine Lampe auf Erden gestörten Schwärze, von Sternen reich besetzt. Ja, so schien es tatsächlich zunächst: Die Schwärze war eine Wölbung, eine Kuppel, eine Schale, und wie in der Kuppel eines türkischen Bades über dem Wasserbecken Löcher angebracht sind, die das Tageslicht in Bahnen in den Dampf fallen lassen, waren offenbar auch hier winzige Löchlein in das Blech der Kuppel gestanzt, hinter denen es taghell war.
Jetzt wischte ein Licht vorbei. Es war, als unternehme eine unbeholfene Hand den Versuch, auf die Himmelskuppel mit Feuer zu schreiben, aber das Licht war alsbald wieder erloschen, eine Sternschnuppe, ein fallender Stern, wie der König wußte, aber jetzt fehlte ihm das rechte Wort, und da war schon ein zweites sich bewegendes Licht inmitten der bewegungslosen, aber dieses Licht erlosch nicht, war etwas langsamer und wanderte stetig seine Bahn. Und es brauchte eine Weile, bis er dachte: Ein Flugzeug, das Flugzeug von Bombay nach Delhi. Ja, dies
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