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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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gelangt zu sein, und war darauf vorbereitet, nach einer weiteren Stunde Wartezeit wieder einmal einen karierten Zettel überreicht zu bekommen. Prinz Gopalakrishnan Singh, der während des Levers ohnehin Verwandelte und nur zu sparsamer Konversation Bereite, war wieder verschwunden, in die Kammer befohlen, hatte sich im Gehen dorthin sichtbar gestrafft und seine wattierte Jacke eng um den Körper gezogen. Aber dann winkte Virah mich unversehens herbei. Ich bückte mich beflissen, aber daß ich die Schuhe ablegte, war offenbar unnötig. Virah hob einen dünnen, bräunlichen Vorhang. Dahinter befand sich das Schlafzimmer des Königs.
    In den unteren großen Salons herrschte an Sesseln, Teppichen und Jagdtrophäen kein Mangel, aber man tat gut daran, sich die einzelnen Dekorationsgegenstände nicht allzu genau anzusehen, sondern den bühnenhaften Palasteindruck im Ganzen zu genießen. Das Schlafzimmer des Königs hingegen war von allem theatralischen Ehrgeiz frei. Wäre es nicht so hoch und groß gewesen, hätte man es für eine Mönchszelle gehalten. Der rot und schwarz gestreifte Teppich war verschlissen. Das Bett war militärisch akkurat gemacht, mit flachem Kopfkissen und dünner Decke. Die Zimmerdecke zeigte das nackte Mauerwerk, mit flachen Gewölben zwischen Eisenträgern wie im Staatsarchiv. Die ockergelben Wände waren seit Erbauung des Hauses wohl nicht mehr gestrichen worden, sie wirkten wie von Sonne und Feuchtigkeit verfärbte Außenmauern. Drei harte Stühle, ein mit Papieren beladener Büroschreibtisch, darüber ein Abreißkalender von der »Bank of Baroda«, und zwei kleine Beistelltische, das waren die Möbel, mit denen der König sich in seiner Herzkammer umgab.
    Er sah nur kurz auf, als ich eintrat. Prinz Gopalakrishnan Singh winkte mich mit vor Ernst geradezu durchbohrenden Blicken auf einen Stuhl. Der König war noch mit dem Haushaltsbuch beschäftigt, einem Folianten mit vielen gedruckten Sparten. Vor ihm stand der grauhaarige, kurzbeinige Mann, der immerfort zum Telephon gelaufen war, und erläuterte die Posten. Der König machte winzige kalligraphische Eintragungen von zum Teil sehr kleinen Summen, so präzis, daß ich sie aus der Entfernung lesen konnte. Die Überprüfung des Haushaltsbuches gehörte, wie ich von Purhoti erfahren hatte, zu den täglichen morgendlichen Pflichten eines Königs nach dem Gebet und dem Bad; schon vor mehr als zweitausend Jahren war das vorgeschrieben, wenn auch damals nicht solch ein marmoriertes Kassenbuch verwendet wurde, wie es noch vor kurzem in jedem Kaufladen üblich war. Einnahmen und Ausgaben waren wie ein Einatmen und Ausatmen des Reiches von Sanchor, über dessen gesunden Organismus der König zu wachen oder doch wenigstens Bescheid zu wissen hatte. Die Erklärungen, die er verlangte, gingen ins Detail. Seine Fragen stellte der König beinahe flüsternd, und erst wenn der Grauhaarige, den ich nun »den Schatzmeister« nannte, Rede und Antwort gestanden hatte, trug der König in Ruhe eine weitere winzige Zahl ein. Auf dem Schreibtisch an der Wand lehnte eine knallbunte Postkarte mit Lord Shiva und dem Nandi-Bullen, rosa Fleischfiguren in Mormonen-Ästhetik. Vor ihr hatte der König, wie an den abgebrannten Räucherstäbchen zu sehen war, sein Morgengebet verrichtet. Obwohl er Patron bedeutender und uralter Tempel war, fühlte er sich von antiquarischem Sakralpomp durchaus unabhängig. Dann wurde das Rechnungsbuch zugeschlagen, und der König hob seinen Blick.
    Der Schatzmeister trug das Rechnungsbuch wie ein Evangeliar mit beiden Händen vor der Brust hinaus. Der König stand auf. Über sein Gesicht legte sich der Ausdruck zärtlicher Liebenswürdigkeit und Freude. Wir verneigten uns voreinander. Wir setzten uns wieder. Der König sah auf seine Armbanduhr.
    »Ich muß Sie bitten, noch etwas Geduld zu haben. Es ist gleich kurz vor zwölf. Um zwölf ist die Geburtsstunde Ramas, des intelligentesten und höchstentwickelten Wesens, das je die Erde betreten hat. In diesem heiligen Augenblick darf nichts Neues begonnen werden. Wir müssen uns bis zehn nach zwölf mit dem Beginn unseres Gesprächs gedulden.«
    Ich sah ihm an, daß diese Ankündigung ihn sichtlich mit der äußersten Zufriedenheit erfüllte.
    So saßen wir schweigend zusammen und begingen das Gedächtnis der Geburt Ramas, die vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren in Ayodya in Upper Pradesh stattgehabt hatte. Hier trat mir erstmals dieser Gottmensch entgegen, für den der König die tiefste Verehrung

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