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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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verlassene Land war in Wirklichkeit von einer Hauptverkehrsader durchzogen, die sich allerdings nicht durch den gelben Staub entlangzog, sondern zwanzigtausend Fuß darüber, in Sichtweite immerhin. Der Bauer, dessen Rinder das Schöpfrad des Brunnens drehten und damit die Felder bewässerten, konnte, wenn seine Augen der Peitsche folgten, mit denen er die Tiere antrieb, die Flugzeuge ins Blickfeld bekommen.
    Jetzt aber ließ das Flugzeug den König aus seiner Täuschung erwachen. Ohne daß es in der Schwärze Orientierungspunkte gegeben hätte, an denen man die Entfernung der Lichter am Himmel hätte abschätzen können, wurde zweifelsfrei deutlich, daß das Flugzeug näher an der Erde flog als die Sterne, und es wurde zugleich erkennbar, daß auch die Sterne in unterschiedlichem Abstand zur Erde standen. Einige besonders helle waren nah, wenngleich weit weg vom Flugzeug, andere, schwächer leuchtende, offensichtlich weit entfernt. Es gab keine Himmelsschale. Der erste Eindruck hatte getrogen. Die Sterne waren keine Löcher, die auf einer Ebene lagen, sie befanden sich als strahlende Körper in einem tiefen Raum.
    Es gelang ihm nun, mit den Augen von Stern zu Stern springend tiefer in diesen Raum zu gelangen. Er nannte für mich die Sterne bei ihren westlichen Namen, wie er sie bei den irischen Schulbrüdern gelernt hatte. Vertraute Sternbilder, der Große Wagen, Orion, der Jäger, die Armbrust, die Vega, die Kassiopeia, die in den Sternatlanten zweidimensional auf einer Ebene zu liegen schienen, offenbarten nun ihre dritte, ihre Tiefendimension. Die Staubwolke der Milchstraße, oft nur ein blasser Fleck wie eine milchige Trübung der Himmelsschale, wurde zu einem durchscheinenden Körper, in dem man wie in einer von diffusem Schein erhellten Schusterkugel noch Wasser ahnen konnte. Immer wieder half ein Flugzeug, den Raum neu zu gewinnen. Wenn seine rote Lampe sichtbar wurde, war es, als wandere ein Zeigestock über das Firmament, das firm nun nicht mehr war.
    Wenn er die Augen schloß, wurde der Himmel zu einem Äquivalent des eigenen Inneren. Auch im Hirn, so empfand er, wenn er die Lider senkte und nach innen blickte, befand man sich in einem nach allen Seiten unbegrenzten dunklen Raum, der keineswegs unstrukturiert war, wenngleich die herrlichen Sterne fehlten, aber auch das Leuchten der Sterne hatte etwas Organisches, dem schwarzen Licht im Inneren Vergleichbares. Dies Sternenlicht wurde unablässig stärker und schwächer, es war geradezu wie ein Blinken, das von den Höhen ausging, oder besser ein Pumpen, die Sterne waren wie Lebewesen, die sich aufbliesen und leerpusteten, sie atmeten. Er meinte, ein Atmen der Sterne zu sehen, so wie die innere Schwärze gleichfalls pulsierte. Er hatte das Gefühl, sich in seinem Innenraum schwebend zu bewegen, eine Bahn zurückzulegen, die geradeaus in die Tiefe der Nacht führte, vielleicht aber auch Segment eines unabschätzbar großen Kreises war. Womöglich sah er in seinem Innern, in diesem kosmischen Raum, den die Hirnschale nicht begrenzte, nur deshalb kein Sternenlicht, weil er selbst der Stern dieses Raumes war, so daß dessen vage Verfärbungen ins tief Dunkelrote oder tief Dunkelbraune von seinem eigenen, ihm selbst anders nicht wahrnehmbaren Licht stammten.
    Er hätte an dieser Stelle an das schier überirdisch entzückte Lächeln denken können, mit dem seine Diener sich bei seinem Anblick vor ihm verneigten. Auch dies Lächeln war eine Reflexion seines Lichtes, wenngleich nur eine blitzartige, denn es wurde alsbald durch eine bis ins Mürrische reichende Teilnahmslosigkeit abgelöst. Aber kein Gedanke an diese alltäglichen Verhältnisse schlich sich ein. Es gab nur das unendlich ausgedehnte, gestaltlose Innere und das ebenso ausgedehnte Himmelsloch mit seinen wie als erstarrter Mückenschwarm darin im Tanzen festgefrorenen Funken. Die Scheidung zwischen innen und außen war so dünn wie das weiße Häutchen eines Eis. Seine Persönlichkeit, seine Geschichte, seine Herkunft, seine Rolle und wie er sie spielte, war zu einer unmeßbar feinen Scheidewand zwischen Himmel und Hirn zusammengeschrumpft. Wenn man über die Sternleitern in die Himmelstiefe hineinstieg, würde sie sich schließlich als ebenso leer erweisen, wie der Riesenraum im Innern der Person. In dieser Einsicht verharrte er lange, zwischen den beiden Leerräumen auf- und absteigend wie zwischen zwei Schichten unterschiedlich temperierten Wassers. Der Himmel erschien ihm wärmer, und wenn er sich

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