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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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von dort in sich zurückrinnen ließ, wurde es kühler, und die Bewegung im Innern wurde eindeutiger ein Kreisen in einem nun deutlich engeren Radius.
    Was war der erste Gedanke, der über dies Erlebnis hinausging?
    »Der Tag, an dem Gott den Himmel faltet wie der Schreiber ein Blatt Papier«, das ging ihm unversehens durch den Kopf. Was war das für ein Satz? Zunächst begann er, seine Vorstellung umzuformen. Wie war das, wenn der Himmel gefaltet wurde wie ein Blatt Papier? Wenn der ungeheure Raum von Gewalten ergriffen und zusammengedrückt wurde und die Sterne sich von ihren Positionen lösten und wie Kiesel in einer Tüte durcheinanderfielen? Er versuchte, sich das vorzustellen, aber etwas in ihm wehrte sich dagegen, der Satz gehörte nicht zu ihm, er entstammte nicht seiner Welt, er war ein Fremdkörper – aber woher?
    Plötzlich sah er eine Reihe von Menschen vor sich, die sich einem Schalter näherten. Er rückte mit ihnen vor. Am Schalter stand ein blondes Kind in langem schwarzen Kleid und reichte mit nacktem Arm ein Papier in die Höhe, und dann drehte es sich um, und es war eine modisch frisierte, auf russische Weise leicht übertrieben geschminkte Frau von fünfzig Jahren, mit alterndem, bitteren Gesicht auf einem Kinderkörper. Nach ihr kam eine Frau mit ärmellosem Sommerkleid, ihr nackter Arm war verschrumpelt und faltig, doch als sie, nachdem sie am Schalter einen Stempel empfangen hatte, wegging, war sie eine junge Frau, die am Arm offenbar schwere Verbrennungen erlitten hatte. Der Schalter war aus schmutzigem Holz. Hinter ihm dehnte sich ein hoher Raum, an dessen Wänden zwei große Pendeluhren hingen, beide waren zu unterschiedlichen Zeiten stehengeblieben, zwischen den Uhren hing schief ein Ölbild mit der schneebedeckten Himalaya-Kette.
    »Afghanistan«, dachte er, »eine Reise nach Afghanistan«, aber er wußte immer noch nicht, wer es war, der diese Reise gemacht hatte, nur daß der Himmelssatz irgendwie dort hingehörte, das war jetzt unumstößlich klar. Er stammte aus einem persischen Gedicht, das in Afghanistan von irgendwem gesprochen worden war. Zugleich stellte sich auch jetzt noch nicht die Frage, wer dieses Gedicht in Afghanistan denn gehört habe. Diese Person meldete sich nun aber auf der Bühne seines Bewußtseins. Plötzlich empfand er Schmerz, einen heftig schneidenden Schmerz im Oberschenkel, und zugleich verstand er, daß er diesen Schmerz schon lange empfinden mußte, er tauchte aus dem Sternennebel auf und machte deutlich, daß er schon lange dagewesen war, aus der gegenwärtigen Empfindung sprach zugleich eine bis dahin unterdrückte Erinnerung.
    Der König rühmte sich, Schmerz gut auszuhalten. Als junger Mann mußte er nach heftigen Bauchschmerzen in Sanchor von einem Militärarzt am Blinddarm operiert werden, und da nicht genügend Narkotika zur Stelle waren, hatte er in eine Operation ohne Betäubung eingewilligt. Er war an den Tisch, auf dem ihm der Bauch aufgeschnitten wurde, gefesselt worden.
    Der Schmerz jetzt verriet eine ernste Verwundung, aber er war immer noch weit davon entfernt, sich auch nur zu bewegen oder gar in die Nacht zu rufen. Dann war er schließlich soweit, daß er seine Glieder behutsam regte, und dann geriet er sogar auf die Beine. Kriechen war freilich besser als gehen. Er nahm Abschied vom Sternenzelt und den Himmelsweiten und blickte wie ein Esel nach vorn. Die Böschung erklomm er mit Mühe. Es näherte sich ein einsamer Scheinwerfer, eine Motorrad-Rikscha auf drei Rädern. Der Fahrer hielt an, als er die kriechende Gestalt bemerkte, die schon auf die Fahrbahnmitte gelangt war. Der Mann stieg aus und half ihm auf den Rücksitz. Das Sitzen war besonders schmerzhaft. Als seine Hand auf dem verletzten Schenkel lag, fühlte er, daß sie naß wurde.
    »Ich hatte über drei Liter Blut verloren«, bemerkte der König mit besinnlich-stolzem Lächeln, aber in der Rikscha wußte er immer noch nicht, wer er war, und auch das Entsetzen seines Retters, der den umgestürzten Jeep und dessen Fahrer mit gebrochenem Genick über dem Lenkrad hängend gefunden hatte, blieb ihm verborgen.
    »Es war interessant«, sagte der König, »wie über Afghanistan mein Bewußtsein zurückkehrte. Es war eine Reise in den frühen siebziger Jahren zu der Hochzeit eines Neffen von Zahir Schah. Ich vertrat meinen Vater, mein Vater kannte den König aus London. In Afghanistan gab es damals schon sehr viele Russen, ich weiß noch, daß ich damals zum erstenmal blonde Frauen mit

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