Das Beben
ausziehe, sie weigert sich dort zu leben, sie sucht das Ausgefallene ...«
»Ich suche nicht das Ausgefallene, ich will wie alle unsere Freunde in einer Sechs-Zimmer-Wohnung am Park wohnen«, unterbrach ihn die Frau in Schwarz.
Ich fragte mich, ob der Name Iris zu ihr passe. Ich sah bei Iris etwas durchscheinend Hellblaues vor mir, kaum Körper, eine silbrige Stimme, nicht so viel sportliche Kraft, und ich dachte an den Namen, den ein deutscher Dramatiker seiner Tochter gegeben hatte: Winnetou, das paßte genau zu der Frau in Schwarz, ihrem indianischen Haar, ihrem apachenmäßigen Schweigen und ihrer Pfeilschärfe, wenn sie dann doch einmal einen Satz abschoß. Der Minister sah sie gequält an. Sein Kindergesicht mit dem Haarwirbel über der Stirn war mit vielen feinen Runzeln überzogen. Er war vom Gymnasiastenalter unmittelbar ins frühe Greisentum gelangt, unter Überspringung des Mannesalters.
Die Diener, die das Gepäck nicht hatten tragen dürfen und wohl glaubten, Gefährliches, Hochexplosives werde darin befördert, so ängstlich blickten sie auf die Taschen, machten sich unsichtbar; mit dem Rücken zur Tür wichen sie unauffällig zurück, um hinter der Tür im Halbdunkel des Korridors, das sie den Blicken der sonderbaren Fremden entzog, schnell davonzulaufen.
»Indien«, sagte der Minister, »das Land von Tausendundeiner Nacht, das Land mit der ganzen Grausamkeit dieser Märchen. Tausendundeine Nacht ist für mich das Schlüsselbuch, direkt vor der Bibel – dreimal habe ich die Bibel gelesen, diesen orientalischen, brutalen und schweinischen Märchenschatz, aber Tausendundeine Nacht habe ich sogar meinem Sohn hier vorgelesen, das ganze Buch, durch Monate hindurch, und natürlich kamen immer wieder gesalzene Stellen vor, da zuckte ich zusammen, aber man ist nicht der letzte Republikaner der ›Freien Republik‹, um die Zwänge, die man selbst überwunden hat, seinen Kindern wieder aufzuladen: Da habe ich geschluckt und tapfer weitergelesen – da mußte ich durch.«
Der Sohn weigerte sich, mich zu begrüßen, wandte sich aber seinem Vater mit quengeliger Zärtlichkeit zu. Er forderte, am Nacken massiert zu werden. Er habe sich auf der Fahrt »verspannt«, ein Wort, das er mit völliger Selbstverständlichkeit gebrauchte. Entspannung und Verspannung gehörten zu seinem Alltag, und speziell der Verspannung war ein grundsätzlicher, leidenschaftlicher Krieg in seinem Vaterhaus angesagt. Der Minister legte sofort die ausgemergelten Hände mit den kurzgebissenen Nägeln auf die Schultern seines Sohnes, der mit gerunzelten Brauen die väterlichen Lockerungsleistungen mit vollzog; nur wenn die Daumen auf einen Muskelknoten im Nacken des Zehnjährigen trafen, unterbrach ein scharfer Protest den Redestrom. Der Minister schwärmte, während er kundig tastete und walkte, von der »Schmutzigkeit« von Tausendundeiner Nacht. »Lebensspendender Schmutz«, sagte er bedeutungsvoll, und deshalb liebe und hasse er Tausendundeine Nacht. Es gehöre zu solch einer Liebe eben immer auch die Zurückweisung des Geliebten. In Tausendundeiner Nacht lasse er sich von dem Zauber der allgegenwärtigen dienstbaren Geister, der schönen Sklavinnen und der dienstwilligen treuen Sklaven bestricken, aber er müsse sich eben auch treu bleiben: In den Tagen der ›Freien Republik‹ habe er geschworen, sich niemals im Leben mehr bedienen zu lassen – nie, unter keinen Umständen – und vor allem nicht in Gegenwart seines Sohnes Joram. Joram sei ein unbestechlicher Moralist. Wenn er sich eben hier an der Treppe des Palastes von diesen Dienern die Koffer hätte tragen lassen, hätte er vor den Augen seines Sohnes versagt. Joram überprüfe ihn unbarmherzig, und er sei ihm dankbar dafür.
»Die Erziehung zum Demokraten geht niemals zu Ende«, sagte er, während er die festen Knöchelchen seiner Hand das biegsame Rückgrat des Sohnes entlanggleiten ließ.
»Tiefer«, befahl der Sohn mürrisch. Dann entspannten sich seine Züge. Der Vater hatte einen Punkt entdeckt, dessen Bearbeitung offenbar besonders guttat.
»Wenn wir in die große Wohnung ziehen und du deine Sperrmüllmöbel abfahren läßt, nehme ich eine Putzfrau, die jeden Tag kommt«, sagte Iris, die sich auf das Bambussopha in der Halle gesetzt hatte und es unter ihrem straffen Körper seufzen und knistern ließ.
»Jeder Dienst zerstört einen Menschen«, antwortete der Minister und bewegte die Daumen, als wolle er diese Devise in die Schultern seines Sohnes hineinkneten.
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