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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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»Ich habe dir das Buch von Goethes Eckermann zu lesen gegeben. Da hast du gesehen, wie selbst der Dienst bei dem großartigsten Herrn, der sich denken läßt, den Diener zerstört. Ich beteilige mich nicht an der Zerstörung von Menschen. Ich habe mich von meinen Eltern und Großeltern ganz bewußt losgesagt, ihr Geld verschenkt, ihre Sachen verkauft und weggegeben, um alle Brücken zu dieser alten Welt, in der Menschen Menschen dienten, abzubrechen. Dies Befehlsgewohnte, das meine Mutter hatte – ich habe es an ihr bewundert und zugleich gehaßt. Als sie mir das Jagdgewehr meines Vaters nach Berlin bringen wollte, hat sie es für selbstverständlich gehalten, die Waffe als Handgepäck mit ins Flugzeug zu nehmen. Die Beamten, die sie daran hindern wollten, hat sie zusammengeschissen, bis die Leute eingeknickt sind. Einerseits waren diese autoritären Beamten meine Feinde, ich fand gut, daß sie eins auf den Deckel bekamen. Andererseits habe ich unter diesem Befehlston gelitten. Es ist alles ambivalent; solange wir von faschistoiden Charakteren umgeben sind, müssen wir befehlen – befehlen, um das Befehlen abzuschaffen. Das habe ich mir in Großbuchstaben auf einen Zettel geschrieben und auf den Schreibtisch im Ministerium geklebt. Jedesmal, wenn ich eine Anordnung treffe, lese ich diesen Satz.«
    Er glaube, er werde inzwischen verstanden. Man merke das auch daran, wie er mit Widerspruch umgehe.
    »Ich weiß, wie«, sagte Winnetou und ließ mit ihren Schenkeln das Sopha ächzen. »Du hörst nicht zu.«
    »Iris hat recht«, sagte der Junge, der die Augen noch genießerisch geschlossen hielt. »Du tust nie, was man dir sagt.« Das Jünglingsgreisenköpfchen wurde noch bekümmerter. Der Minister bat um Verständnis. So vieles zerre an ihm. Er selbst gehöre noch zu einer Generation, die die vollständige Freiheit nicht erreichen werde. Joram habe da schon mehr Chancen. Er wachse mit einem intakten Vaterbild auf, habe eine intakte Vaterbeziehung. Wenn er, der Minister, von seinem Vater träume, der so jung gefallen sei, dann seien das immer Angstträume. Der Vater habe ihn niemals geschlagen – »Dann hätte er es mit Mutter zu tun bekommen« – diese Worte verrieten einen verborgenen Stolz – und dennoch diese in den Träumen gegenwärtige Angst.
    »Joram wird, das hat mir sein Therapeut bestätigt, mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals Angstträume von mir haben.«
    »Ich habe geträumt, daß du in die Hose geschissen hast«, sagte Joram, zum erstenmal nicht quengelig und mit der Zärtlichkeit kokettierend, sondern kühl und sachlich. Das sei gut, sagte der Minister, obwohl ich zu sehen glaubte, daß er einen anderen Traum lieber gehört hätte. Dem Jungen war es gelungen, die lückenlose Beredsamkeit seines Vaters zu unterbrechen. Eine in diesem Kreis überraschende Empfindung breitete sich aus. War das am Ende gar Verlegenheit?
    »Ich lasse dich nicht gern allein in diesen feudalen Verhältnissen zurück«, begann der Minister schließlich aufs Neue, indem er sich an Winnetou richtete. »Als Frau allein könntest du Schwierigkeiten haben«. Es kam ihm in den Sinn, daß ich diese Bemerkung mißverstehen könne.
    »Sie wissen, meine Haltung zu den Gesellschaften der Dritten Welt ist ambivalent.« Man sei mit der Musik Afrikas und Indiens gleichsam großgeworden, in dem legendären Schallplattenladen von Don Giuseppe Zambon, einem gleichsam katakombenhaften Sammelpunkt der Bewegung, habe man sich mit ethnischer Musik aller Erdteile eingedeckt, lange Zeit habe er ausschließlich arabische Trommeln und Sufi-Flöten gehört, das sei der melodische Stoff seiner Jugend gewesen. Dann die Küche der Dritten Welt: Hammelhoden und Hirsebrei, Curry und Ceviche, Chili con carne – das sei mehr als eine Speisekarte gewesen, das sei ein Bekenntnis, eine Lebensform, auch wenn er vieles davon heute nicht mehr vertrage, er esse im Grunde nur noch Reis, aber das sei ja gleichfalls ein hochpolitisches Nahrungsmittel, »Bitterer Reis« – nicht wahr? Zu den Indienfahrern seiner Generation habe er freilich nie gehört – »Wir mußten nicht erleuchtet werden, wir wollten kämpfen« –, deshalb sei Südamerika, Kuba, Nicaragua, Chile das selbstverständliche Ziel gewesen. »Mit übrigens ähnlichen Problemen wie hier.« Sehr hart sei für ihn die Begegnung mit dem lateinamerikanischen Machismo gewesen, das ihn heftig erschütternde Erlebnis, daß dort zwischen den Zuckerrohr- und Tabakfeldern die politischen Freiheitsbewegungen

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