Das Beben
So spielte sie selbst gelegentlich mit dem Gedanken, wie es wohl sei, ganz allein das Haus zu verlassen und in den Straßen auf und ab zu gehen, in einer Teestube Tee zu trinken und mit den Leuten am Nachbartisch zu schwatzen, aber vor dem Versuch graute ihr, und auch den Empfang von Gästen hätte sie gern ihrem Mann überlassen. Es war etwas leichter, einzutreten, wenn alle versammelt waren, und sich die Leute vorstellen zu lassen. Dann reichten ein Lächeln und eine Verneigung. Sie pflegte sich dann so nah wie möglich zu ihrem Mann zu setzen und schaute sich mit Staunen, Neugier und Ablehnung um.
Ich hatte ihr Eintreten gefürchtet, als ich Iris so unbekümmert ausgestreckt sah. Es war mir unwohl bei dem Gedanken, daß die Prinzessin der Ungezwungenheit westlicher Frauen in ihrem eigenen Haus begegnen sollte. Ich kannte den von keinem Vorzug des Westens zu beeindruckenden Stolz des Königs, aber ich war inzwischen davon überzeugt, daß sein Bruder und seine Schwägerin nicht ebenso selbstsicher waren, daß die westlichen Autos und Digitalkameras und Ernährungsgewohnheiten sie beunruhigten und verwirrten. Ich stellte mir Karōna Devi in ihrem Verhältnis zu ihrer Dienerschaft als einen Menschen vor, der auf einem Piedestal steht, von anderen Menschen zu seinen Füßen umgeben, und auf sie hinabblickt, zugleich aber über eine Mauer sehen kann und auf der anderen Seite Riesen entdeckt, die keinen Sockel brauchen. Und ich hielt für möglich, daß sie voll Sorge auch darüber nachdachte, welchem ihrer Diener wohl gleichfalls der Blick über die Mauer gelungen sei, in welchem Dienerkopf schweigende Vergleiche angestellt wurden zwischen dem bescheidenen Hof von Sanchor und der neuen Welt der Luxushotels in Jaipur und Delhi. Ich begriff erst später, daß ein freizügiges, man kann auch sagen, ungezogenes Betragen einer Frau wie Iris die Familie von Sanchor niemals ernsthaft hätte beunruhigen können, weil man sich unüberbrückbar tief von solchen Frauen geschieden wußte. Niemals konnte Iris zum geheimen Vorbild von Karōna Devi werden. Familie, Klasse, Kaste, Religion, Lebensgewohnheiten, alles, was für uns austauschbare, beliebige, zu vernachlässigende Größen sind, bildeten für Karōna Devi die felsenfesten Fundamente ihres Lebens. Das Verhalten einer westlichen Frau war so komisch und befremdend für sie wie das Betragen einer Äffin, die sich auf dem Eukalyptusbaum vor der Auffahrt stoisch ihrem Affengemahl hingab.
Iris-Winnetou hatte die Nachricht erhalten, daß der König sie jetzt zu empfangen wünsche. Dann solle auch ihr Vorgehen in den nächsten Tagen besprochen werden. Ich wußte natürlich, was Zeitangaben in der Praxis des Königs waren, sie bezeichneten nicht den Augenblick der Begegnung, sondern den Zeitpunkt, bei dem das Warten auf die königliche Gegenwart begann. Die Zeit, in der der Besucher wartete und der König wußte, daß er erwartet wurde, gehörte schon ihnen beiden, sie schuf einen von Hoffnung und mancherlei Gedanken erfüllten Raum, der sich um den Auftritt des Königs herumlegte wie ein Pfauenrad. Zwischen einzelne Höhepunkte des Tages viel leere Zeit zu legen, die ihnen Nachhall und Resonanz verlieh, war alte königliche Kunst, deren Anwendung schon von den Vorfahren Purhotis kundig überwacht worden war.
Prinzessin Karōna Devi bat die Ankömmlinge aus der Halle in den großen Salon, wo sie sich auf den durchgesessenen rosa Seidensesseln unter die Hörner- und Geweihtrophäen niederließen. Virah näherte sich barfuß mit militärischem Barett und in Khakiuniform, gefolgt von zwei sehr jungen Dienern, die Tabletts mit salzigen Pistazien und Nüssen trugen. Tief neigte sich der junge Diener mit dem Tablett vor dem Minister, seine nackten Füße tänzelten wie die Hufe eines nervösen Pferdes, während der Sohn des Ministers mit beiden Händen in die Schalen griff.
»Eine Bauchschmerz-Situation«, bemerkte der Minister auf deutsch zu mir, »ich fühle mich in solchen Situationen einfach überfordert. Manche halten mich wegen meiner Konsequenz für eiskalt, aber das bin ich nicht. Inkonsequenz tut mir einfach weh.« Virah trat zu dem Minister und überreichte ihm einen winzigen Zettel. Mit Schreibmaschine war darauf geschrieben: »Das Eintreffen Seiner Hoheit wird sich um eine Stunde verschieben. Seine Exzellenz wird nunmehr um 21 Uhr empfangen.«
»Wer ist die Exzellenz?« fragte der Minister und reichte den Zettel Iris, die ihn nicht lesen wollte.
»Du brauchst dich an
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