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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Jahresringen, an gewachsenen Zutaten, an Eintrübungen, Vergilbungen, Patinierungen gewonnen hatte, galt ihnen nicht als kostbare, durch keine Kunstfertigkeit herzustellende Haut, sondern als verfälschende Schmiere, die selbst dann herunterzuputzen war, wenn sie an der alten Substanz des Werkes derart innig haftete, daß ihre Entfernung das Objekt selbst gefährdete oder gar gleich beschädigte. Es traf zu, daß im Alten Fort vieles dabei war, unwiderruflich zu zerfallen. Ich dachte an den Seidenbezug der mit Silberblech beschlagenen Thronsessel, der wie Mottenflügel in einer Lampenschale zu feinem grauen Staub zerbröselte. Ein Gang mit dem Staubsauger durch das Alte Fort würde Schneisen der Zerstörung schlagen, die Miniaturen würde man von den Wänden gleichsam herunterhusten können. Mir war bei der Vorstellung, das Alte Fort solle von dieser Frau mit ihrer mir jetzt geradezu hämmernd erscheinenden Gesundheit restauriert werden, zumute wie am Sterbelager eines alten geliebten Menschen, den ein experimentierfreudiges Ärzteteam noch einmal unter Einsatz aller Apparate auf die Beine zwingen will. Im übrigen war sie nicht allein. Draußen wurde ein Auto ausgeladen.
    »Nein, ich bestehe darauf, mein Gepäck selber zu tragen«, hörte ich englisch mit deutschem Akzent sprechen. In der Flügeltür, die ganz mit Fliegendraht ausgefüllt war, erschien die Silhouette eines mit Taschen und Rucksäcken beladenen Mannes, der von Maggah und Virah, den Dienern, gefolgt wurde. Ich erkannte den Mann vor mir erst nach einem Augenblick des Verdutztseins, denn ich hatte sein Gesicht zwar gelegentlich in der Zeitung oder im Fernsehen gesehen, fühlte mich in Sanchor meinem Zuhause jedoch derart entrückt, daß mir ein Bote aus dieser Sphäre zunächst als das Allerunwahrscheinlichste überhaupt erschien. »Jimmy« nannte sich der Mann in der politischen Öffentlichkeit, in Wahrheit hieß er Horst-Eberhard oder jedenfalls ganz ähnlich. Als Protagonist der kleinen radikalen Partei hatte er es zu einem deutschen Landesministerium gebracht. Noch im Flugzeug hatte ich ein Bild seines traurigen und zerbrechlich erscheinenden Kinderköpfchens gesehen, darunter der faltig werdende Hals des bald sechzig Werdenden, der aus einem kragenlosen Unterhemd herausguckte. Jetzt trug der Minister einen grauen Jogging-Anzug und Safari-Stiefel, während das Kind, das ihm folgte, ein rosa Unterhemd mit der Aufschrift »Ich bin ein Ausländer« anhatte.
    Was wollten diese Leute in Sanchor? Sie machten aus ihren Absichten kein Geheimnis, wobei der Minister für beide sprach, während die Frau in Schwarz mit den großen engstehenden Augen seine Worte durch ein ausgeprägtes Mienenspiel untermalte, keineswegs immer zustimmend. Der Minister hatte in den Jahrzehnten, die er in der Partei, der Studentenbewegung, allen Arten von Öffentlichkeit zugebracht hatte, die Eloquenz eines milden, dauerhaften Landregens entwickelt. Er sprach immer, und da er, wie sich später zeigte, nichts aß und nichts trank und auch keine Zigarette anstecken mußte, was alles ein gelegentliches Innehalten erzwungen hätte, gelang es ihm, wie ein solcher Regen die Welt nachhaltig zu durchweichen, mit dünner, trockener Stimme übrigens, zu der der Regenvergleich gar nicht paßte, eher ein Mückensummen in einer Wolke von Sonnenstäubchen. Der Sachverhalt war einfach. Die Frau sollte im Palast Miniaturen so weit von den Schmutzkrusten befreien, daß die Bilder photographiert werden konnten. Es entstand soeben eine mit amerikanischen Stiftungsgeldern finanzierte Bildmonographie über den persischen Einfluß auf die Miniaturmalerei im Radjastan der Mogul-Zeit, und der Herausgeber dieses Werkes hielt Sanchor für wichtig. Die Frau war die Freundin des Ministers, der angereist war, um ein von seinem Ministerium gefördertes Aufforstungsvorhaben bei Jodphur zu besichtigen. Er hatte die Frau hierherbegleitet, weil es sich einmal so ergab, morgen früh würde er wieder abreisen und auch den Sohn mitnehmen – jetzt erfuhr ich das Geschlecht des Kindes, das sich aus dem Augenschein heraus nicht ergab –, aus einer früheren Ehe – »Sie wissen, wir waren eine sehr lebhafte Generation, meine erste Frau war nacheinander mit allen Mitgliedern meiner Wohngemeinschaft verheiratet, heute bin ich der einzige, der in der alten Wohnung übriggeblieben ist: ›Freie Republik‹ nannten wir sie früher, in einem alten Arbeiterwohnhaus aus schwarzen Ziegelsteinen – Issi drängt, daß ich

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